Ein Ich, das sich selbst anschauen kann

von | 29. Oktober 2019 | Denklichter

„Das Leben ist notwendig selig, denn es ist die Seligkeit“ (Johann Gottlieb Fichte)

Fichtes Satz scheint unserer Erfahrung zu widersprechen. Leben ist sicher nicht reine Seligkeit, sondern zumindest auch Leiden; für manches religiöse Denken gilt sogar „Leben ist Leiden“ – z.B. in einer klassisch buddhistischen Auffassung.

Fichtes Begründung vertieft unser Befremden noch: „Die Liebe teilet das an sich tote Sein gleichsam in ein zweimaliges Sein, dasselbe vor sich selbst hinstellend, und macht es dadurch zu einem Ich oder Selbst, das sich anschaut und von sich weiß; in welcher Ichheit die Wurzel alles Lebens ruhet. Wiederum vereinigt und verbindet innigst die Liebe das geteilte Ich, das ohne Liebe nur kalt und ohne alles Interesse sich anschauen würde.“

Die Kraft der Liebe ist es also, zunächst zu teilen. Wir assoziieren „teilen“ mit „trennen“. Aber bei Fichtes Worten denken wir besser an einen Wassertropfen, der sich in zwei Tropfen teilt oder eine Erdbeerpflanze, die einen Ableger bildet. Dann bedeutet Teilen lebendiges Wachstum. Teilen ermöglicht eine erste Vielfalt.

Aber es ist auch ein tatsächliches Trennen: Zwei Wassertropfen sind nicht einer. Sie stehen sich zunächst bezuglos gegenüber. Und doch ermöglicht erst diese Distanz, dass ein Wesen, sich sich selbst gegenüberstellend, zu sich Ich sagen kann.

Wenn allerdings diese erste Tat der Liebe die einzige ist, dann entsteht nur kaltes Interesse. Diese Weise kennen wir gut. Wir nennen sie Leben und erleben daran Leid. Fichte nennt sie Tod.

Die Liebe kann indes eine zweite Tat vollziehen: die Verbindung mit der Wahrheit, dem anderen Menschen oder dem eigenen Ich. Durch diese Beziehung werden die Erkenntnis und das Ich integriert. Das um sich selbst, den anderen Menschen und die Welt bewusst wissende ‚ichliche‘ Leben vollzieht sich nur in Liebe, und für Fichte ist erst dieses Leben wirklich Leben – und Seligkeit.