
Seminare zur GEISTESGESCHICHTE
Übersetzung und Erschließung des Neuen Testaments vor dem Hintergrund antiker Spiritualität
Die Texte des Neuen Testaments wurden und werden heute zumeist als Zeugnisse einer damals neuen, ethischen Lehre oder als Lebensgeschichte eines Religionsgründers gelesen. Gleichwohl ist klar, dass diese Texte nur vor dem komplexen Hintergrund der spirituellen Praxis ihrer Zeit angemessen verstanden werden können. Den übergreifenden geistigen Zusammenhang bilden die antiken Kulte und die mit ihr im Zusammenhang stehenden spätantiken Philosophieströmungen. Aus dieser Perspektive heraus versuchen wir die Texte des Neuen Testaments zu erschließen und diesen Zugang der ersten christlichen Jahrhunderte neu für die Gegenwart zu eröffnen.
Zum Hintergrund: Besinnung auf die Wurzeln
Die Mysterien und ihre Philosophie
Mysterienkulte waren Einrichtungen, die der spirituellen Ausbildung ausgewählter Menschen dienten, um die Basis jedweder Kultur zu gewährleisten – nämlich den Kontakt zur Götterwelt aufrecht zu erhalten und daraus das irdische Leben mit Festzeiten und Gebräuchen zu gestalten. Das zentrale Erlebnis innerhalb der Mysterien war die Einweihung eines dafür vorbereiteten Menschen als die Erfahrung des Erscheinens des Gottes („Theophanie“).
Mysterien waren als zentrale Institutionen überall vorhanden, auf ihnen fußten alle alten Kulturen in ihrer jeweiligen Ausprägung. „Nichts ist besser als jene Mysterien, durch die wir aus einem wilden und jenseits des Maßes sich vollziehenden Leben herauskultiviert sind zur Menschlichkeit (humanitas) und seelisch maßvolle Bildung erfahren haben“, beschreibt noch der römische Staatsmann und Philosoph Marcus Tullius Cicero wenig Jahrzehnte vor Christi Geburt diese kulturbegründende Stellung der Mysterien.
Der Ursprung des Christentums liegt in einer Epoche, in welcher die Mysterienkulte zwar äußerlich eine Blüte in die Kultur hinein erlebten, aber zugleich auch in eine (damals intensiv diskutierte) Dekadenz kamen. Deutet man das frühe Christentum von diesem spirituellen Umfeld her, so erscheinen die Texte des Neuen Testaments, aber auch die spätantike Mysterienphilosophie nicht zuletzt als Antworten auf eine durchgreifende Krisis der alten Kulte und ihrer Einweihungsformen. Dabei sollten insbesondere die kultischen Vollzüge dafür sorgen, dass ein Gott in einer Theophanie als Inkorporation erfahren wird. Aber eine Inkarnation in Menschwerdung Gottes war etwas vollkommen Neues. Diese Problemlage wurde in der Mysterienphilosophie der Spätantike durchdacht.
Die Erwartung
Die antike Mysterienkultur hat freilich auf einen solchen Umschwung durch die Inkarnation Gottes gewartet. Die „Messiaserwartung“ ist in den Jahrhunderten vor Christi Geburt im Jüdischen ebenso präsent wie in anderen griechischen oder kleinasiatischen Kulten die Hoffnung auf den kommenden „Soter“ („Retter“ / „Heiland“). Ob sich der radikale Umschwung wirklich vollzogen hat, ob „dieser“ wirklich der „Christus“, der „Messias“, der „Soter“ ist: mit dieser Frage lebten die Vertreter der Mysterienkultur, beispielsweise der Orden der Pharisäer.
Vom kontroversen Umgang mit dieser Erwartung berichtet das Neue Testament. Denn seine Grundaussage lautet, dass Gott Mensch geworden ist, also die erwartete Inkarnation ein für alle Mal stattgefunden hat.
Aus der Sicht des frühen Christentums ergeben sich daraus Konsequenzen für die Mysterienpraxis. Nicht mehr die Menschen unterziehen sich der immer schwierigeren spirituellen Übung, sich von ihrem „gefallenen“ Menschsein zu reinigen, um in Berührung mit dem Gott, zur „Schau“, zu kommen. Sondern die Erlösung ist prinzipiell und als Möglichkeit für jeden dadurch erfolgt, dass Gott menschliches „Fleisch“ bis hin zur leiblichen Auferstehung angenommen hat.
Die Übersetzung
Liest und übersetzt man die Texte des Neues Testamentes, deren altgriechische Sprache für einen Leser der ersten Jahrhunderte durchaus bis in die Wortwahl derartige Zusammenhänge erfahrbar werden ließ, erscheinen die Erzählungen und Briefe in einem anderen Licht als dem heutzutage gewohnten. Die sogenannten „Ich-Bin“-Worte des Jesus Christus im Johannes-Evangelium können ein Beispiel dafür sein, dass mit dem Christentum die individuelle Entwicklung des Menschen selbst (und nicht mehr ihre Zugehörigkeit zu „Abraham“ und zum „Volk Israel“ oder zu einem bestimmten Kult) ins Zentrum rückt. Vor dem Hintergrund der Mysterientradition wird an den Texten des Neuen Testaments die Umarbeitung alter Formen der Selbstverwandlung durch den Mensch gewordenen Gott, Jesus von Nazareth, sichtbar. Sie sind nun in die Verantwortung des Einzelnen gelegt. So gelesen, erlauben die Texte eine Besinnung auf die Wurzeln und die noch zukünftige Aufgabe, einen solchen individuellen christlichen Weg zu entwickeln.
Im Projekt streben wir an, nach und nach eine kommentierte und mit Erschließungshilfen versehene Übersetzung des Neuen Testaments vorzulegen, welche diese Perspektive sichtbar macht.
Wir bieten mehrmals im Jahr Seminare zu dieser Thematik an. Dabei diskutieren wir die neu übersetzten Texte des Neuen Testaments mit interessierten Menschen und erschließen diese so, dass sie für einen heute individuell zu übenden christlichen Weg erfahrbar werden. Außerdem verbinden wir die spirituellen Anregungen der Übersetzung mit neuen Übungsformen, Kontemplation und aktuellen philosophischen Fragestellungen. Bildbetrachtungen ergänzen den Kontext des jeweiligen geistesgeschichtlichen Zusammenhangs.
Seminarleiter sind Lydia Fechner (Übungen und Kunstbetrachtungen) und Harald Schwaetzer (Übersetzungen und Textarbeit).
Öffentliche Seminare „Bilder des Menschlichen“
– für alle Interessierten –
Das „Älteste Systemprogramm des Idealismus“ und Friedrich Hölderlin
„Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt /
Die Erdensöhne ohne Gefahr.“
Stuttgart
10.–12. Oktober 2025
Zur Beschreibung
Friedrich Hölderlin war derjenige, der im Weiteren diesen Entwurf in seiner Dichtung versucht hat, konkret und existenziell zu leben.
Im Seminar werden wir des Text des „Systemprogramms“ kennenlernen und Hölderlins Gedichtentwurf „Wie wenn am Feiertage…“ als Neubestimmung der Poesie zu verstehen suchen.
Novalis: Das Märchen von Hyacinth und Rosenblüth
Stuttgart
6.–8. März 2026
Zur Beschreibung
Vertiefungs-Seminare 2024/25: „Spätantike & Frühes Christentum“
– nur für ehemalige Teilnehmende der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE –
„Wenn ich nicht sehe in seinen Händen den Urtypus…“: Aus dem Auferstehungsbericht des Johannes-Evangeliums
LindenGut Dipperz (bei Fulda)
16.–18. Mai 2025
Zur Logos-Philosophie der griechischen Antike als Vorbereitung des Christentums
LindenGut Dipperz (bei Fulda)
4.–6. Juli 2025
Rahmenbedingungen & Anmeldung
Seminarzeiten
Freitag, 15:00 Uhr – 18:30 Uhr
Samstag, 9:30 – 18:00 Uhr
Sonntag, 9:30 – 13:00 Uhr
Veranstaltungsorte
Stuttgart: Rudolf Steiner Haus, Zur Uhlandshöhe 10, 70188 Stuttgart
Fulda: Biohotel LindenGut, Kohlgrunder Weg 1, 36160 Dipperz
Teilnahmebeitrag
Einzelseminar: 190 EUR inkl. Pausenverpflegung und Bio-Mittagessen am Samstag
Ermäßigung auf Nachfrage und für Studierende möglich (150 EUR statt 190 EUR)!
Wir freuen uns auf Ihr Kommen!
Ausblick: Alumni-Seminare 2025/26: „Wege der Ich-Bildung“
– nur für ehemalige Teilnehmende der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE –
Goethe: Italienische Reise – Erkundungen im Wahrnehmungsraum
Stuttgart
6.–8. Dezember 2025
Mittelalterliche Mystik: eine Reise des Geistes zu sich selbst
Stuttgart
30. Januar – 1. Februar 2026
„Erkraftet euch im Herrn und in Herrschschaft seiner Stärke.“
Im Brief an die Epheser entwickelt Paulus das Bild eines christlichen Streiters, eines „miles“. Damit nimmt er den dritten Grad antiker Mysterientradition auf. In unserer diesjährigen Reihe wollen wir dieses Bild und seinen Kontext auf seine Gegenwarts- und Alltagstauglichkeit befragen. Dazu setzen wir es im Durchgang durch die Geistesgeschichte in ein Verhältnis zur modernen Ich-Bildung.
Im ersten Seminar widmen wir uns der ersten Stufe der Mysterien, dem „Raben“, – und zwar anhand von Goethes Italienischer Reise, um zentrale Fähigkeiten dieses Grades wie Unbefangenheit, sich Einlassen auf andere Positionen oder Dienen zu erkunden.
Auf die Ausbildung von Wahrnehmung und Urteilskraft folgt auf der zweite Stufe die Verpuppung, der „Nymphus“. Diesem In-sich-Gehen spüren wir anhand der mittelalterlichen Mystik und ihren Praktiken der Meditation und des „Wiederkäuens“ nach, um Möglichkeiten innerer Beobachtung und Selbstverwandlung auszubilden.
Wie aus der Raupe der Schmetterling, so entsteht auf der dritten Stufe der „miles“, den wir im dritten Seminar anhand von Paulus betrachten. Den „miles“ zeichnet aus, dass er ein geistbezogenes wahres Urteil fällen, es aussprechen und dafür einstehen kann.
Das vierte Wochenende wendet sich dem christlichen Urbild des „miles“ zu, und zwar anhand des apokryphen, aber bis in die Neuzeit weit verbreiteten Nikodemus-Evangeliums. In ihm findet sich die ausführlichste Darstellung der sogenannten Höllenfahrt Christi am Karsamstag, in welcher der Auferstehende die Unterwelt siegreich überwindet – eine Schilderung, die wir auf den modernen Umgang mit dem Bösen hin befragen.
Paulus: der christliche Streiter gegründet im Geiste, stehend in der Welt
Stuttgart
24.–26. April 2026
Höllenfahrt Christi: Vom Umgang mit dem Bösen
Stuttgart
10.–12. Juli 2026