Paul Klee: Märchen (1929)

Veranstaltungsreihe GEISTESGESCHICHTE

Übersetzung und Erschließung des Neuen Testaments vor dem Hintergrund antiker Spiritualität

Die Texte des Neuen Testaments wurden und werden heute zumeist als Zeugnisse einer damals neuen, ethischen Lehre oder als Lebensgeschichte eines Religionsgründers gelesen. Gleichwohl ist klar, dass diese Texte nur vor dem komplexen Hintergrund der spirituellen Praxis ihrer Zeit angemessen verstanden werden können. Den übergreifenden geistigen Zusammenhang bilden die antiken Kulte und die mit ihr im Zusammenhang stehenden spätantiken Philosophieströmungen. Aus dieser Perspektive heraus versuchen wir die Texte des Neuen Testaments zu erschließen und diesen Zugang der ersten christlichen Jahrhunderte neu für die Gegenwart zu eröffnen.

Zum Hintergrund: Besinnung auf die Wurzeln

Die Mysterien und ihre Philosophie

Mysterienkulte waren Einrichtungen, die der spirituellen Ausbildung ausgewählter Menschen dienten, um die Basis jedweder Kultur zu gewährleisten – nämlich den Kontakt zur Götterwelt aufrecht zu erhalten und daraus das irdische Leben mit Festzeiten und Gebräuchen zu gestalten. Das zentrale Erlebnis innerhalb der Mysterien war die Einweihung eines dafür vorbereiteten Menschen als die Erfahrung des Erscheinens des Gottes („Theophanie“).
Mysterien waren als zentrale Institutionen überall vorhanden, auf ihnen fußten alle alten Kulturen in ihrer jeweiligen Ausprägung. „Nichts ist besser als jene Mysterien, durch die wir aus einem wilden und jenseits des Maßes sich vollziehenden Leben herauskultiviert sind zur Menschlichkeit (humanitas) und seelisch maßvolle Bildung erfahren haben“, beschreibt noch der römische Staatsmann und Philosoph Marcus Tullius Cicero wenig Jahrzehnte vor Christi Geburt diese kulturbegründende Stellung der Mysterien.
Der Ursprung des Christentums liegt in einer Epoche, in welcher die Mysterienkulte zwar äußerlich eine Blüte in die Kultur hinein erlebten, aber zugleich auch in eine (damals intensiv diskutierte) Dekadenz kamen. Deutet man das frühe Christentum von diesem spirituellen Umfeld her, so erscheinen die Texte des Neuen Testaments, aber auch die spätantike Mysterienphilosophie nicht zuletzt als Antworten auf eine durchgreifende Krisis der alten Kulte und ihrer Einweihungsformen. Dabei sollten insbesondere die kultischen Vollzüge dafür sorgen, dass ein Gott in einer Theophanie als Inkorporation erfahren wird. Aber eine Inkarnation in Menschwerdung Gottes war etwas vollkommen Neues. Diese Problemlage wurde in der Mysterienphilosophie der Spätantike durchdacht.

Die Erwartung

Die antike Mysterienkultur hat freilich auf einen solchen Umschwung durch die Inkarnation Gottes gewartet. Die „Messiaserwartung“ ist in den Jahrhunderten vor Christi Geburt im Jüdischen ebenso präsent wie in anderen griechischen oder kleinasiatischen Kulten die Hoffnung auf den kommenden „Soter“ („Retter“ / „Heiland“). Ob sich der radikale Umschwung wirklich vollzogen hat, ob „dieser“ wirklich der „Christus“, der „Messias“, der „Soter“ ist: mit dieser Frage lebten die Vertreter der Mysterienkultur, beispielsweise der Orden der Pharisäer.
Vom kontroversen Umgang mit dieser Erwartung berichtet das Neue Testament. Denn seine Grundaussage lautet, dass Gott Mensch geworden ist, also die erwartete Inkarnation ein für alle Mal stattgefunden hat.
Aus der Sicht des frühen Christentums ergeben sich daraus Konsequenzen für die Mysterienpraxis. Nicht mehr die Menschen unterziehen sich der immer schwierigeren spirituellen Übung, sich von ihrem „gefallenen“ Menschsein zu reinigen, um in Berührung mit dem Gott, zur „Schau“, zu kommen. Sondern die Erlösung ist prinzipiell und als Möglichkeit für jeden dadurch erfolgt, dass Gott menschliches „Fleisch“ bis hin zur leiblichen Auferstehung angenommen hat.

Die Übersetzung

Liest und übersetzt man die Texte des Neues Testamentes, deren altgriechische Sprache für einen Leser der ersten Jahrhunderte durchaus bis in die Wortwahl derartige Zusammenhänge erfahrbar werden ließ, erscheinen die Erzählungen und Briefe in einem anderen Licht als dem heutzutage gewohnten. Die sogenannten „Ich-Bin“-Worte des Jesus Christus im Johannes-Evangelium können ein Beispiel dafür sein, dass mit dem Christentum die individuelle Entwicklung des Menschen selbst (und nicht mehr ihre Zugehörigkeit zu „Abraham“ und zum „Volk Israel“ oder zu einem bestimmten Kult) ins Zentrum rückt. Vor dem Hintergrund der Mysterientradition wird an den Texten des Neuen Testaments die Umarbeitung alter Formen der Selbstverwandlung durch den Mensch gewordenen Gott, Jesus von Nazareth, sichtbar. Sie sind nun in die Verantwortung des Einzelnen gelegt. So gelesen, erlauben die Texte eine Besinnung auf die Wurzeln und die noch zukünftige Aufgabe, einen solchen individuellen christlichen Weg zu entwickeln.
Im Projekt streben wir an, nach und nach eine kommentierte und mit Erschließungshilfen versehene Übersetzung des Neuen Testaments vorzulegen, welche diese Perspektive sichtbar macht.

Wir bieten mehrmals im Jahr Seminare zu dieser Thematik an. Dabei diskutieren wir die neu übersetzten Texte des Neuen Testaments mit interessierten Menschen und erschließen diese so, dass sie für einen heute individuell zu übenden christlichen Weg erfahrbar werden. Außerdem verbinden wir die spirituellen Anregungen der Übersetzung mit neuen Übungsformen, Kontemplation und aktuellen philosophischen Fragestellungen. Bildbetrachtungen ergänzen den Kontext des jeweiligen geistesgeschichtlichen Zusammenhangs.

Seminarleiter dieser Veranstaltungen sind Lydia Fechner (Übungen und Kunstbetrachtungen) und Harald Schwaetzer (Übersetzungen und Textarbeit).

Öffentliche Seminarreihe „Zur Aktualität des Johannes-Evangeliums“

– für alle Interessierten –

Johannes in der Spätantike: Gregor der Große

13.–15. Dezember 2024
Freitag, 17 Uhr – Sonntag, 13 Uhr

Stuttgart

> Das Seminar ist bereits ausgebucht! <

„Wenn ich nicht sehe in seinen Händen den Urtypus…“: Aus dem Auferstehungsbericht des Johannes-Evangeliums

16.–18. Mai 2025
Freitag, 17 Uhr – Sonntag, 13 Uhr

LindenGut Dipperz (bei Fulda)

Vertiefungsseminare „Spätantike und frühes Christentum“

– nur für Teilnehmende der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE –

Naturvision im Mittelalter und in der Moderne: Hildegard von Bingen und Paul Cézanne

11.–13. Oktober 2024
Freitag, 15 Uhr – Sonntag, 13 Uhr

Freiberg am Neckar (bei Stuttgart)

Origenes liest Lukas: Der barmherzige Samariter

24.–26. Januar 2025
Freitag, 15 Uhr – Sonntag, 13 Uhr

Stuttgart

„Geschaut habe ich den Kosmoswind herabsteigend wie eine Taube vom Himmel“: Die Jordantaufe im Johannes-Evangelium

7.–9. März 2025
Freitag, 15 Uhr – Sonntag, 13 Uhr

Stuttgart

Zur Logos-Philosophie der griechischen Antike als Vorbereitung des Christentums

4.–6. Juli 2025
Freitag, 17 Uhr – Sonntag, 13 Uhr

LindenGut Dipperz (bei Fulda)

Rahmenbedingungen & Anmeldung

Veranstaltungsorte
Freiberg am Neckar: Philosophisches Seminar, Mühlstraße 100, 71691 Freiberg am Neckar
Stuttgart: Rudolf Steiner Haus, Zur Uhlandshöhe 10, 70188 Stuttgart
Fulda: Biohotel LindenGut, Kohlgrunder Weg 1, 36160 Dipperz

Teilnahmebeitrag
Einzelseminar: 190 EUR inkl. Pausenverpflegung und Bio-Mittagessen am Samstag
Ermäßigung auf Nachfrage und für Studierende möglich (150 EUR statt 190 EUR)!

Wir freuen uns auf Ihr Kommen!

 

Paul Klee: Das Lamm