„Bewußtsein als Wahrnehmungsfähigkeit ist Lauschsamkeit, Lauersamkeit, Erwartsamkeit, Aufmerksamkeit, diese aber ist der rege oder in Wirksamkeit begriffene Zweifel in Beziehung auf zu empfangende Vorstellungen.“
Karl Fortlage: System der Psychologie I. Leipzig 1855, S. 76.
Karl Fortlage notiert diesen Satz 1855 in seinem „System der Psychologie“. Bewusstsein als Lauschsamkeit ist eine zu übende Fähigkeit; wenn man etwas sehen möchte, was schwer wahrzunehmen ist, etwa ein scheues Tier am Waldsaum, welches man beobachten will, dann muss man den Ort gut im Blick haben; man muss ganz wach sein, und die Bewegung und die kommende Wahrnehmung wie mit der Phantasie vorherbilden, so Fortlage, um dann aus Wachheit und Bildsamkeit im rechten Moment „lauschsam“ zu sein. Damit ist auch verbunden, im Moment der realen Wahrnehmung die Phantasie so geschmeidig zu haben, dass sie wirklichkeitsfähig ist. Ohne Phantasie sähe man nichts – nur mit Phantasie sähe man keine Wirklichkeit. Die Offenheit der Phantasie für die Wirklichlichkeit beinhaltet auch den Zweifel; er hält sie beweglich.
Grundlage der „Lauschsamkeit“ ist für Fortlage „die wahrnehmende oder auffassende“ Einbildungskraft. Sie ist ihm aber nicht nur eine Kraft, sondern ein realer Leib, ein „Phantasieleib“ oder „Empfindungsleib“ (Ebd., S. 95f.). Es ist „jener Phantasieleib, jenes aus- und einziehbare Gehäuse, das die Seele untrennbar umgiebt, nicht ein Einbildungsraum im Sinne einer bloßen Fiction, sondern ein Einbildungsraum im Sinne einer Wirklichkeit. Alle Erdichtungen gehen von ihm aus […]; er selbst ist keine Dichtung, sondern etwas eben so Wirkliches, als wir selbst.“ (Ebd., S. 95)
Lauschsamkeit in einer schwierigen, komplexen Welt zu üben – weder zu resignieren, indem man auf Wahrnehmung und Urteil verzichtet, noch sich vorschnell auf scheinbar Gewisses zurückzuziehen –, also mit Phantasie und Zweifel produktiv Wirklichkeit erkennen wollen: Das ist eine Aufgabe, die gegenwärtig nicht weniger aktuell ist, als sie es Mitte des 19. Jahrhunderts war.