„Heute aber – wo ist die gemeinsame Atmosphäre des Geistes, wo die Weltanschauung, die in uns klingt oder sich um uns, über uns spannt und wölbt als Himmel und Horizont? Sind wir nicht geistig Nomaden ohne Heim und Heimat, Versprengte ohne Gemeinschaft und Führung? Schwanken wir nicht ohne Steuer und Anker auf der hohen See der Erkenntnis? Zwar zehren wir noch von den großen Traditionen, von Resten früherer Weltanschauungen – doch wenn wir weder Sinn noch Trieb haben sie zu stützen noch Kraft und Mut sie umzubilden, wo werden wir noch geistigen Halt finden?“ – Karl Joël, Basler Rektoratsrede am 14.11.1913
Diese Einschätzung der geistigen Lage durch den Basler Philosophen Karl Joël (1864-1934) scheint heute noch zutreffender zu sein als am Vorabend des Ersten Weltkrieges. – Der neue Band der „Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik“ (IZFK) widmet sich dem Ansatz von Karl Joël, den dieser unter dem Titel „Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik“ 1906 vorgelegt hat. Trotz der geänderten Zeitlage lohnt es sich, auf die Quellen hinzudeuten, aus denen Joël geschöpft hat. Wie er selbst nach dem Ursprung der Naturphilosophie fragt, so wird in den Beiträgen dieses Bandes nach dem Ursprung seines eigenen Denkens gefragt. Nach einer grundsätzlichen Vorstellung seines Ansatzes (Harald Schwaetzer) werden die drei Epochen in den Blick genommen, auf die Joël vor allem rekurriert: Antike (Wolfgang Christian Schneider), die Renaissance (Gianluca Cuozzo) und Deutscher Idealismus (Johanna Hueck) sowie Spätidealismus (Cristián Hernández Maturana). Abschließend erfolgt ein Blick von der Gegenwart her (Philipp Thomas). Im engeren Sinne situiert sich die Fragestellung des vorliegenden Bandes im Bereich einer Naturphilosophie des Anthropozän. Er diskutiert dabei die These, dass Naturphilosophie aus Mystik entspringt, ohne in ihr aufzugehen, dass die erstere aber auch ihren Ursprung nicht verleugnen darf. Joël bietet damit einen gegenwärtige Konzeptionen produktiv hinterfragenden Wissenschaftsbegriff, der zugleich in eine auch das Geistige in Mensch und Kosmos ernst nehmende Anthropologie eingebettet ist.
Die Beiträge des von Johanna Hueck und Harald Schwaetzer herausgegebenen Bands können hier kostenlos heruntergeladen werden.