Als „die Wahrheit schauend“ beschreibt Platon die Seele im Phaidros (249b). Und er setzt wenig später hinzu (249e): „eine jede Seele des Menschen hat dem Wesen nach geschaut das Seiende“. Für Heinrich Barth ist diese Bestimmung der Seele grundlegend nicht nur für seine Platon-Deutung, sondern auch für seine spätere Existenzphilosophie, und zwar gerade aufgrund ihrer Geistbezogenheit.
Barth verdankt diesen Blick auf Platon nicht zuletzt seiner ‚Doktormutter‘ Anna Tumarkin, die ebenfalls zu Platon und seiner Seelenlehre publiziert hat. Wie Barth – sowohl im Platon-Buch, aber auch in den späteren systematischen Fragen einer transzendentalen Transzendenz – zielt auch Tumarkin auf eine Erörterung der unsterblichen Seele; denn sie ist es, welche Wahrheit und Sein schaut bzw. geschaut hat.
Das „Philosophische Seminar“ widmet sich in seiner Forschung nicht nur Heinrich Barth, sondern auch in einer Kooperation mit Ulrich Weger von der Universität Witten-Herdecke Anna Tumarkin. Die Schweizer Philosophin Anna Tumarkin hatte ab 1909 in Bern als erste Frau in Europa eine ordentliche Professur inne. Neben ihren Forschungsschwerpunkten in der Ästhetik und der Hermeneutik entwickelte sie in zwei einschlägigen Werken eine philosophische Psychologie, die eine grundlegende und kritische Methodenreflexion vornimmt und einen eigenständigen Ansatz verstehender Psychologie liefert. Diesem Ansatz hat sich am 5. und 6. Februar ein Forschungskolloquium gewidmet. Nicht zuletzt aus ihm stammt die Anregung zum vorliegenden Heft.
Den Auftakt bildet ein Beitrag von Ulrich Weger, welcher die „Gretchenfrage“ nach Seele und Geist in der aktuellen Psychologie bedenkt. Was für Platon und Aristoteles grundlegende Bestimmungen der Seele waren, ist heute zu einer methodisch wie inhaltlich problematischen und wenig bedachten Frage geworden.
Das liegt nicht zuletzt an dem Methodenstreit in der Psychologie um 1900. Harald Schwaetzer zeigt in seinem Beitrag, wie Anna Tumarkin in diesem Streit eine originelle Position vorgelegt hat, die nicht nur den antiken Vorstellungen Platons wie Aristoteles’ Anerkennung zu zollen, sondern auch mit Blick auf die „Gretchenfrage“ für die Gegenwart Tore zu öffnen vermag.
Wie eine solche Psychologie als Philosophie in der Geschichte des Abendlandes verankert ist, zeigt die historische Rückbesinnung von Harald Walach. Seine Analyse zentraler Positionen des Mittelalters führt er systematisch weiter in die Zeit Brentanos. Damit ist mehr geleistet als ein bloßer Rekurs auf Brentano ‚und‘ Aristoteles oder Thomas – vielmehr ist konkret und mit Blick auf andere Positionen die historische Kontinuität einer philosophischen Psychologie, welche den Geist mitbedenkt, aufgewiesen, in der auch Tumarkins Ansatz am Ende sich verorten lässt.
Einen Ausblick auf gegenwärtige Fragen geben Lisa-Alexandra Henke und Herbert Kalthoff. Dabei nehmen sie nicht nur die moderne Verfassung des Menschen in den Blick, sondern erweitern die Perspektive des Heftes auf Fragen einer Pathologie, die jenseits des medizinisch-pathologischen Feldes fraglos auch eine gesellschaftliche Bedeutung haben.
Ferner aufgenommen in das Heft wurde ein Beitrag von Dragan Jakovljević zum Kritischen Rationalismus, der abseits des Themenschwerpunkts zu Philosophie und Psychologie die unterschiedlichen Positionen von Hans Albert und Karl Popper zur Religion ergründet.
Das im Aschendorff-Verlag erschienene Heft kann hier für 24,80 EUR bezogen werden.