Ein Bericht von Christian Graf, Präsident der Heinrich Barth-Gesellschaft, Basel
In wie immer ebenso konzentrierter wie heiterer Atmosphäre traf sich die junge und ältere Barth-Forschung am 22./23. November 2025 in der Freien Hochschule über Stuttgart zu einem Kolloquium, in dem die von Sophie Asam und Paulus Schürmann frisch edierte und herausgegebene Vorlesung zu Wirklichkeit und Möglichkeit diskutiert und analysiert wurde. Heinrich Barth hatte diese Vorlesung zweimal in den fünfziger Jahren gehalten, in einer Zeit, in der er auch seine damals dreigegliederte systematische Philosophie vortrug und intensiv am zweiten Band seiner Philosophie der Erscheinung arbeitete. Die relativ kurze Vorlesung ist deshalb besonders interessant, weil Barth darin im Ausgang von einem Problem der theoretischen Philosophie, der logisch-formalen Frage nach dem Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit, in verdichteter Form das ganze Spektrum seiner systematischen Philosophie entfaltet. Das Modalitätsproblem, von anderen (wie dem ebenfalls aus der Marburger Schule stammenden Nicolai Hartmann) eindeutig und ausschliesslich der Ontologie zugeordnet, wird bei Barth im Gang über das Ästhetische in einen existenzphilosophischen Kontext übersetzt.
Die Frage nach der Wirklichkeit in ihrer Koextensivität mit der nach der Erscheinung und der Zeit bildet einen, wenn nicht den Brennpunkt der Philosophie Barths. In der Philosophie der praktischen Vernunft aus dem Jahr 1927 fordert er eine „neue Durchdringung des Wirklichkeitsbegriffs“, welche die Voraussetzung dafür sei, dass Freiheit sich vor der theoretischen Vernunft rechtfertigen lasse. Aus dem Jahr 1939 ist erhalten ein Typoskript mit dem Titel „Entwurf zu einer Philosophie des wirklichen Seins“, das bisher erst in einem kurzen Auszug veröffentlicht wurde, aber die eindeutigsten Parallelen zu dem jetzt diskutierten Vorlesungstext zeigt. Unter anderem schließen beide mit derselben „transzendierenden Betrachtung“. Nach Barths eigenem Bekunden hat der „Entwurf“ noch etwas Unsicher-Tastendes, während er gleichzeitig um seinen bahnbrechenden und systembegründenden Charakter zu wissen scheint.
Im Zuge der Diskussionen kam es zur Erneuerung einer Frage, die immer wieder an Barth gerichtet wurde und auch ohne Zweifel an ihn zu richten ist: Wie ist der Perspektivismus seiner Wirklichkeitsauffassung zu verstehen? Führt er in einen universalen Relativismus und zur Preisgabe einer Ausrichtung auf Wahrheit? Inwiefern ist die Perspektive der Ameise gleichberechtigt mit derjenigen eines Menschen? Gerät Barth mit sich selbst in Widerspruch, wenn er gleichwohl von der Möglichkeit einer „tieferen“, „besseren“, „adäquateren“ Sicht spricht? Oder wird nur der zu enge Massstab eines identischen Seins der Wirklichkeit, dem man sich annähern kann, durch den wahrhaft universal und transzendental gedachten Massstab der Wahrheit als solcher ersetzt, derjenigen Wahrheit, die nicht nur die Krisis unseres Denkens, sondern auch die Krisis unserer Existenz ist?
Dem Editoren- und Herausgeberteam sowie den Organisatoren dieser neuerlichen, sehr gelungenen kleinen Tagung gilt unser wärmster Dank!