Bericht: Forschungsworkshop Troxlers „Elemente der Biosophie“

von | 04. Juli 2024 | Allgemein, Bericht, Forschung

Am Sonntag und Montag, den 7. und 8. April 2024, traf sich ein gutes Dutzend philosophisch interessierter Menschen unter obigem Stern. Es war ein ungewöhnlicher Grund zu einem denkwürdigen Geschehen. Das beinahe ganz vergessene Universalgenie Prof. Dr. Ignaz Paul Vital Troxler führte zur Neuedition zwei seiner Werke ein buntes Grüppchen weitgehend idealistisch gesinnter Menschen zusammen, die sich mit einem Problem befassten, das man heute fast flächendeckend weder diskutiert noch ernst nimmt oder überhaupt noch kennt. Fast alle Wissenschaften stürzen sich auf Sekundärphänomene des Lebens und haben letzteres als Primärproblem ganz aus dem Auge verloren. Und während man hofft, mittels Gentechnik den Idealmenschen zu erschaffen, geht das gut registrierte Artensterben munter weiter – ohne dass man sich den Aufwand leistet, darüber nachzudenken, woher das Leben kommt und was es eigentlich sei. Unser Grüppchen widmete sich gerade diesem vermeintlich aussichtslosen Geschäft. Schon Troxler selbst kämpfte mit seinen späteren vier „Berufen“ und elf Kindern nicht nur immer wieder ums Überleben, sondern er wollte dem Leben selbst ins Auge schauen, ganz im Sinne von Goethes Bemerkung: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist bekannt…“. Als Troxlers „Blicke in das Wesen des Menschen“ im November 1812 erschienen, studierte Goethe sie sofort und rechnete sie zu den bedeutsamsten Erscheinungen des Jahres. Vorbereitet wurde dieser eine Höhepunkt in Troxlers Schaffen durch seine beiden zur Neuedition vorgesehenen „Lebensschriften“ von 1807: „Das Leben und sein Problem“ und „Elemente der Biosophie“. Durchaus erwähnenswert ist auch die Art des Zustandekommens der Neuedition. Sie geschah nicht durch Warten und Hoffen auf Hilfe und Unterstützung durch das Kultusministerium oder andere staatliche Kulturbeamten oder private Kulturbeauftragte, sondern durch die frische Initiative einer Philosophiestudentin, die das Fehlen der seit 2 Jahrhunderten vergriffenen Werke als schmerzlich empfand und die ganze Aufbereitung und Satzarbeit in ihrer Freizeit auf sich nahm und nahezu druckreif ihrem Professor zur Begutachtung vorlegte – also sozusagen elementar aus dem Leben selbst heraus. Schon hierdurch wird deutlich, dass es Taten der Liebe sind, die neues Leben erzeugen und nicht das hochdotierte, ohnmächtige Bejammern des Aussterbens der Artenvielfalt. Solche Liebestaten sind es denn auch, die die nötige Stimmung erzeugen, sich philosophisch-gedanklich dem Lebensproblem zu nähern, obwohl ja – worauf schon Novalis hingewiesen hat – alle Bewusstseinsbemühungen Todesprozesse sind, also dem Leben diametral zuwiderlaufen. Aber wenn die nötige meditative Stimmung da ist, dann gelingt es doch hin und wieder, sich den äußeren Zwängen, Sinnen, Nerven und Gehirn zu entreißen und in die Sphäre eines lebendigen Denkens einzutreten, das dem Todesprozess widersteht ohne dass das Bewusstsein dabei verloren geht. Eine solche Stimmung war nicht nur vorhanden, als Troxler als junger Student in der Blütezeit des deutschen Idealismus den Geistesfürsten Schelling und Fichte zu Füßen saß, sondern sie konnte auch im Forschungsworkshop des Philosophischen Seminars unter der Ägide des Professors Harald Schwaetzer und von Sophie Asam erlebbar werden.

Durch den krankheitsbedingten, kurzfristigen Ausfall von Prof. Brigitte Hilmer, die uns in die Arbeit einführen sollte, musste Harald Schwaetzer in die Bresche springen. Er rollte dann die ganze Sache, wie er uns sagte, von hinten auf, also nicht über die Einleitung, die er zu dieser Neuedition beisteuerte, sondern indem er die Kernanliegen und Schaffensbedingungen Troxlers in uns lebendig zu machen suchte. Man könnte vielleicht auch sagen, nicht von Seiten einer grauen Theorie, sondern von Seiten der Praxis, indem er uns das innere Streben Troxlers und seiner berühmteren Zeitgenossen vor Augen führte – oder eben aus dem vollen Leben heraus. Dies kann ja nur dann gelingen, wenn man in Denken und Ideen nicht nur Werkzeuge zur Abbildung bzw. Spiegelung einer äußeren Wirklichkeit erkennt, sondern ihnen selbst schöpferische Funktion im Sinne der schaffenden Ideen Platons oder Goethes oder der mittelalterlichen Universalienrealisten zugesteht. Hier beginnt natürlich ein Tabubruch, bei dem in der „akkreditierten“ Philosophie sozusagen der Spaß aufhört und man beginnt sich augenblicklich außerhalb der klar abgesteckten Skipiste zu bewegen. Sofort bauten sich auch ganze Wände von dicker Luft auf, wie um die Grenzen der Legalität zu verdeutlichen und zu verstärken. Dennoch gelang es Harald Schwaetzer die gute Stimmung zu wahren, indem er betonte, dass Troxler eben durchaus bei den Universalienrealisten zu verorten sei, und dass man, wenn man seine ideellen „Fahrspuren“ wirklich verfolgen und verstehen wolle, die abgegrenzten Gewässer des Nominalismus verlassen müsse. Das mache unsere Arbeit natürlich gefahrvoll und angreifbar, aber eine wahrhafte Bemühung um eine Neuedition dürfe sich dem nicht leichtfertig entziehen.

Die Troxlertexte wurden teilweise referiert, teilweise auch gelesen, Harald Schwaetzer nahm sich Kapitel 1 und 2 („Philosophie“ und „System“), Vicky Müller-Lüneschloss 9 und 10 („Chaos“ und „Fatum“), Martin Bunte 11 und 12 („Leben“ und „Erschaffen und Vernichten“) und Sophie Asam 19 und 20 („Causalität“ und „Vitalitätsverhältnis“) vor. Je nach Denkart und Vorbereitung der Referenten war interessant zu beobachten, ob Troxlers Votum selbst durchkam, oder ob er nur an Kant und seinen Lehrern oder dem Urteil seiner Zeit gemessen wurde. Immer von neuem konnte seine Sprachgewandtheit, seine Ausdrucksfähigkeit und Wortschöpfungskraft bewundert werden. Welche Perlen lagen hier jahrzehntelang verborgen? Welcher Denk-Humus lag hier brach und hat Generationen von Studenten und Interessenten seine Trieb- und Bildekraft entzogen? Schon die ersten beiden Abschnitte des ersten Kapitels „Philosophie“ verblüffen durch ihre Kürze, Treffsicherheit und geballte Energie:

Philosophie ist gänzlich von all Denjenigen, selbst ihrem Wesen nach, verkannt worden, welche annahmen, daß ihr Ziel Wissenschaft sey! – als wenn Wissenschaft und Weisheit eines wäre.

Weisheit ist die lebendige Erkenntniß, von welcher die der Gewißheit und Wahrheit nur Reflexe sind: Wissenschaft hingegen ist nur die Erkenntniß der Gewißheit und steht der Erkenntniß der Wahrheit entgegen, welche Geschichte ist.

Troxler: Elemente der Biosophie

Das Wort „Vitalsinn“ zur Erkenntnis des Lebens entlehnt er von Kant, gibt ihm aber eine ganz andere Bedeutung. Er spricht nicht nur von einer Erkenntnis des Lebens, sondern von einer „lebendigen Erkenntniß“. Diese steht ihm über Vernunft, Verstand, Sinn und Ahnung; sie ist weder allein durch Gedanken oder Gefühle erreichbar, fasst aber alles zusammen, was durch diese durch Nachdenken und Erfahrung sich bildet und ihre Selbstüberzeugung in sich trägt. Diese so angedeutete, lebendige Erkenntnis ist ihm „Biosophie“, zu der er erste Elemente und Zugänge aufzeigen möchte. Sie ist ihm Ursprung alles Seyns. Das Leben leitet sich nicht etwa aus „Chaos und Fatum“ her. Chaos sei nur eine formlos gedachte Existenz und Fatum eine regellos gedachte Erscheinung. Weil es aber beides ursprünglich nicht gibt, so ist alle in Form von Seyn und Schein auftretende Wirkung Offenbarung des vorausgehenden weisheitsvollen Lebens – der Biosophie. Diese sei das wahrhaft Absolute, das wahrhaft Seiende, das όντως όν der Griechen. Es stehe also über der Geister- und Körperwelt erhaben als principium cognoscendi et essendi. Als solches steht es natürlich auch über Erschaffen und Vernichten: „Das Leben als Ursache von Erscheinung und Existenz kann also nicht geschaffen seyn, und nicht vernichtet werden, denn als solche ist und erscheint es nicht, sondern lebt“.

Hier ist der Punkt, wo uns die beiden schwierigen Schlusskapitel „Causalität“ und „Vitalität“ erhitzten, aber auch wenigstens die Ahnung einer gewissen klärenden Abkühlung brachten. Während es leicht ist, einzusehen, dass die Zeit sich in die Grenzen von Anfang und Ende hüllt und dass bei der Ewigkeit diese Grenzen entfallen, wird es dem zunächst diskursiven Bewusstsein schwer, festzuhalten, wie nun die Unendlichkeit konkret in die Endlichkeit übergeht bzw. die Endlichkeit in die Unendlichkeit zurückkehrt. Dasselbe Problem besteht bei „Freiheit und Nothwendigkeit“ bzw. bei „Möglichkeit und Wirklichkeit“ und auch, warum der Ursprung zugleich ein Abgrund sein soll. Hier ist es auch, wo sich Troxler von seinem hochverehrten Lehrer Schelling absetzen muss. Eine zentrale Rolle spielen dabei die beiden Erscheinungs- bzw. Seyns-Weisen „Schein und Seyn“. Beide liegen zunächst ungetrennt in einem übergeordneten (jenseitigen) ewigen Reiche des ursprünglichen Lebens und gehen erst durch eine Ur-Teilung (Urtheil) aus diesem hervor. Beide gehen durch dieses „Urtheil“ aus dem Reiche der bloßen allgemeinen Möglichkeiten in konkrete Wirklichkeit über. Dieser Schritt ist zugleich der Übergang aus dem Reiche der Freiheit zur zwingenden Notwendigkeit. Und zwar auf zweifache Weise, in denen Troxler einmal den Ursprung alles Dynamischen und andererseits den alles Organischen sieht bzw. die Urkraft und die Urmaterie. Die Spontaneität des Lebens (Urkraft) ist ihm die „Quelle aller Freiheit“ und die Substantialität (Urmaterie) der Grund aller Möglichkeit. Die „Nothwendigkeit“ ist ihm nichts anderes als der Ausdruck jener im Phänomen, die Wirklichkeit nichts anderes als die Äußerung von dieser im „Product“. Die Religionswissenschaftler unter uns konnten nicht anders, als in diesem von Troxler in elementare philosophische Kategorien gefasstes Geschehen den Weltschöpfungsvorgang zu sehen bzw. den in der Genesis beschriebenen, durch den „Sündenfall“ veranlassten Übergang von einem paradiesischen Zustand in einen irdischen Leidensweg in Zeit und Raum.

Während böse Zungen behaupten, Troxler habe durch seine „Blicke in das Wesen des Menschen“ Goethe als lebendiges Vorbild für seine Wagner-Figur in seinem „Faust“ gedient, ist Troxler wohl eher selbst ein faustisches Streben zuzusprechen.
Schon in diesen frühen Schriften findet sich seine spätere tetraktysche Gliederung des Menschenwesens veranlagt:

Auch indem Troxler durchaus als Vertreter eines johanneischen Christentums eingestuft werden kann, lässt sich aus seinem Entwurf eine Beziehung zu Fausts Übersetzungsversuchen des Johannes-Evangelium-Prologes herstellen:

Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin,
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass Deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Solche Bezüge scheinen sich bei tiefer gehender Betrachtung ohne Zwang wie von selbst zu ergeben. Jedenfalls wurden durch die sinnigen Erklärungen von H. Schwaetzer manche zunächst sehr schwer enträtselbare Stelle plötzlich durchlichtet und erleuchtet. Dankbar wird mancher Teilnehmer mit guten Erinnerungen auf dieses besondere Seminar zurückblicken. Nicht zu vergessen auch, sind die mit sichtbarer Liebe kredenzten kulinarischen Köstlichkeiten. So dass wir ganz in Troxlers tetraktyschem Sinne sagen dürfen, dass unser befeuerter Geist mit erfüllter Seele und belebtem Leib einen gestärkten Körper nach Hause tragen durfte. Vielen Dank!

– Frieder Sprich –