Lectio Cusana VII: De coniecturis/Mutmaßungen von Nikolaus von Kues

„… dass jede menschliche Behauptung über das Wahre, die positiv ist, eine Mut-Ma­ßung darstellt (omnem humanam veri positivam assertionem esse coniectu­ram)“.

Mit diesem Ergebnis einer verstehenden Lektüre seiner ersten philosophi­schen Schrift De docta ignorantia, eröffnet der Autor Nikolaus von Kues sein zweites philosophi­sches Hauptwerk, das er daher De coniecturis nennt.   

Thema dieser Schrift ist das menschliche Erkennen, wie wir es unter den Bedingun­gen der Endlichkeit unseres Sprechens und Denkens verstehen, darstellen und mit­teilen können. Das Wachstum des Wahr-Nehmens (adauctio apprehensionis veri) ist uner­schöpflich, die unendliche Wahrheit selbst bleibt dabei unerreichbar. Denn sie ist nicht das Ziel, sondern das Prinzip und das Maß des menschlichen Erkennens, das sich für uns in der Suche nach Wahrheit, nicht ihres Besitzes, erfüllt.  Mit diesen Hinweisen aus dem Prolog ist alles gesagt. Es folgen zunächst 13 (Buch I) und dann weitere 17 (Buch II) Kapitel, in denen der Autor diesen ungewöhnlichen Gedanken – besser gesagt: diese neue Ausdrucksweise einer alten platonischen Fragestellung – zu erläutern unternimmt. Der Versuch einer Erläuterung dessen, was nicht direkt gesagt werden kann, geschieht durch „Bilder“; anders ausgedrückt durch Gleichnisse, d.h. durch Sprachbilder, d.h. durch Worte, die nicht in wörtlicher, sondern in „bildlicher“ Bedeutung verstanden werden wollen. Das Leit„bild“, auf das Cusanus hier zurück­greift, weil es für alle europäischen (d.h. im 15. Jahrhundert: christlichen) Zeit­genossen verbindlich ist, ist die Bestimmung der Gottebenbildlichkeit des mensch­lichen Geistes, und zwar im Bild der Schöp­fungsanalogie: Wie Gott als der Schöpfer der realen Welt gilt, so der menschliche Geist als Schöpfer der gedachten Welt (mundus rationalis sive coniecturalis) (Kap. 1). Auch dieses Bild ist erläuterungs­bedürftig. Es wird in diesem Buch erläutert am Bild der fortgeschrittensten der zeit­genössischen Wissensdisziplinen, die Cusanus an ihrem europäischen Zentrum in Padua kennengelernt hatte, der Mathematik, die wiederum eng geführt wird mit der aristotelischen Metaphysik und der platonischen Seelenlehre. Solche bildlichen Erläu­te­rungen philoso­phischer Grundbegriffe durch Gleichnisse aus vertrauten Themen­feldern füllen den Rest des Buches. Die Unvermeidlichkeit und die Frucht­bar­keit dieser bild­lichen Spra­che in philosophischen Grundfragen, die anzuerkennen vielen „moder­nen“ Lesern schwerfällt, wird das Seminar ausführlich zur Diskussion stellen.

Angeboten wird ein offenes philosophisches Lektüre-Seminar an der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues an der Mosel. Das Seminar richtet sich an Studierende der Philosophie aller Semester, auch DoktorandInnen und andere erfahrene Cusanus-LeserInnen sind willkommen. Erwartet wird über die notwendige Lektürevorbereitung hinaus eine gewisse Vertrautheit mit der lateinischen Sprache und die Bereitschaft, sich auf fremdes Denken einzulassen. Die Sprache der Zeit, in der der Autor schreibt, ist lateinisch und theologisch, sein Denken überraschend modern und aktuell.

Zum Programm und den Vorbereitungshinweisen geht es hier. Fragen & Anmeldung per E-Mail an: Sophie Asam ().