Kaum ein Thema verbindet das Denken der Zeitgenossen Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth so prägnant wie ihr je eigener, engagierter Umgang mit der Philosophiegeschichte. Nicht nur für Jaspers spielte Augustinus in der Ausbildung seiner Existenzphilosophie eine wesentliche Rolle, auch seine Schülerin Hannah Arendt begann ihren denkerischen Werdegang mit einer Arbeit zum Liebesbegriff bei Augustin. In seiner Darstellung der Augustinischen Philosophie verweist Jaspers sowohl auf die Dissertation von Arendt als auch auf die Augustinus-Monographie seines Kollegen Heinrich Barth, die dieser zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten vorgelegt hat. Darin nimmt Barth eine gründliche Auslegung der Freiheitsthematik bei Augustin vor. Insofern bildet die Freiheitslehre Augustins einen gemeinsamen thematischen Mittelpunkt für Jaspers, Arendt und Barth.
Bei allen dreien steht die Erfahrung des Ersten Weltkriegs im Hintergrund. Die in ihm entfesselte maschinelle Gewalt zwingt zu Fragen nach der Freiheit des Menschen, nicht nur Gutes, sondern auch Böses zu tun. Die Freiheit zwischen diesen extremen Polen entscheiden zu können, ist, was für Augustin aus dem Sündenfall des Menschen folgt. In existenzieller Ungewissheit, in einer historischen Situation, in der Gutes möglich scheint und sich das Böse wieder am Horizont zeigt, werden Jaspers, Arendt und Barth philosophisch sozialisiert.
Im Karl Jaspers-Gedenkjahr 2019 wurde der gemeinsame Bezug der Werke von Jaspers, Arendt und Barth zur Freiheitslehre Augustins zum Anlass genommen, eine Tagung im Karl Jaspers-Haus, Oldenburg zu veranstalten, um Differenzen und Gemeinsamkeiten der drei Denkerinnen und Denker auszuloten, zumal die Freiheitsfrage auch und gerade heute als die basale Frage für unabhängiges, kritisches Denken und verantwortliches, gesellschaftliches Handeln gelten muss.
Der vorliegende, von Nils Baratella, Johanna Hueck, Kirstin Zeyer herausgegebene Sammelband vereint die nach Sektionen gegliederten Beiträge. In der Sektion I: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Auslegung und Geschichte widmet sich Harald Schwaetzer der alle drei Denker übergreifenden Frage nach der existentiellen Phänomenologie als „Wesenserfahrung des Göttlichen“. Während Nils Baratella in seinem Beitrag mit dem ‹immerwährenden Anfang› einen zentralen Aspekt von Hannah Arendts Augustinus-Rezeption in den Blick nimmt, konzentriert sich Kirstin Zeyer auf Heinrich Barths Philosophiegeschichtsphilosophie. – Die Sektion II: Existenz und Freiheit eröffnet Susanne Möbuß mit Überlegungen zur Bedeutung des existenzphilosophischen Konzepts der ‚gebundenen Freiheit‘, gefolgt von Anton Hügli zum Thema „Freiheit und Existenz – Auf der Suche nach der Freiheit, die wir meinen“. Das Freiheits- als Willensproblem bei Hans Jonas und Hannah Arendt steht im Zentrum des Beitrags von Frauke A. Kurbacher. Armin Wildermuth widmet sich dem Thema der Freiheit und der Welt der Erscheinung bei Hannah Arendt, Adolf Portmann und Heinrich Barth. – In der Sektion III: Transzendenz und Freiheit erläutert Malte Maria Unverzagt Jaspers’ Konzeption des „Umgreifenden“, gefolgt von Bernd Weidmann, der den augustinischen Spuren der Ohnmacht in der Freiheit im Denken von Karl Jaspers nachgeht. – In Sektion IV: Gnade, Freiheit und Politik untersucht Christian Graf mit Blick auf Heinrich Barth die Frage der Gnade im Kontext der Philosophie. Johanna Hueck stellt schließlich das Verhältnis von Existenz und Transzendenz bei Heinrich Barth in den Mittelpunkt.
Es handelt sich bei diesem Sammelband um Band 1 der neuen, im Basler Schwabe-Verlag erscheinenden Reihe „Forschungen zu Karl Jaspers und zur Existenzphilosophie„, herausgegeben von Anton Hügli und Kurt Salamun.