„Natur in der Lyrik und Philosophie des Anthropozäns: Zwischen Diagnose, Widerstand und Therapie“ lautet der Titel des neuen Bandes in der Reihe „Texte und Studien zur Europäischen Geistesgeschichte“ (Reihe B, Band 23). Herausgegeben von Kirstin Zeyer, Henrieke Stahl und Harald Schwaetzer versammelt er 30 Beiträge eines interdisziplinären Gesprächs über Natur – über den poetischen Umgang mit ihr und den philosophischen Diskurs über den Naturbegriff. Gerade die Gegenwartslyrik konzentriert sich unter Einbezug verschiedener Disziplinen auf Fragen der Sensibilisierung für Umwelt- und Klimafragen. In der neueren Lyrik gerät auch ‚Natur in Transition‘, indem Grenzüberschreitungen zwischen Mensch und Tier oder Pflanze, zwischen belebter und unbelebter Natur, zwischen Erde und Kosmos sowie zwischen Natur und Technik behandelt werden.
Das Thema „Natur in Transition“ ist eng verknüpft mit dem von Geologen für die Gegenwart geprägten Begriff ‚Anthropozän‘. Er impliziert, dass menschliche Produkte den Planeten in einer neuen Qualität durchdringen: Sind keine temporal und lokal begrenzten Gegenstände mehr, sondern per se transitorisch, genannt auch hyperobjects, wie der Klimawandel, radioaktive Materie oder allgegenwärtige Kunststoffpartikel. „Neueste Technik ist in der Lage, transhumane Formen von Intelligenz und transnatürlichem Leben zu schaffen. Diese Situation macht die neuzeitliche Grenzziehung zwischen Kultur und Natur zugleich obsolet und eine Revision des Verständnisses von Menschsein resp. Natur sowie ihrer Beziehung erforderlich“ (Claus Telge).
In dem Band werden Dichtungen u.a. von Marcel Beyer, G. Sebald, Aleksei Parshchikov, Edwin Morgan, Gennadij Ajgi und Durs Grünbein untersucht. Es geht um Reaktionen auf die Atomkatastrophe von Fukushima in der japanischen Lyrik ebenso wie um „die ‚andere‘ Art der Naturbetrachtung bei Nikolaus von Kues und ihre Bedeutung für die Naturphilosophie der Gegenwart“ (Kazuhiko Yamaki) oder „Geschichte als Manifestation von Wahrheit. Horizonte einer Naturphilosophie des Anthropozän“ (Harald Schwaetzer), wobei auch die Autorenschaft entsprechend international geprägt ist. Kirstin Zeyer steuert eine ausführliche Einleitung in das Thema bei, in der sie abschließend auch Chancen zur Heilung ausmacht – „als Therapie für das geschädigte Verhältnis von Natur und Mensch […], indem etwa Gedichte dazu anleiten können, das Bewusstsein zu dezentrieren und für die Natur zu öffnen. Lyrik kann sich als Übungsfeld für neue Naturwahrnehmung gestalten, deren historische Genese und aktuelle Bedeutung für die Entwicklung von Perspektiven, die aus den ökologischen Katastrophen des Anthropozäns hinausweisen, wiederum in der philosophischen Reflexion fassbar gemacht werden können. Das interdisziplinäre Gespräch zwischen Lyrik- und Philosophieforschenden, wie es der vorliegende Band dokumentiert, hat sich als produktiv für die Auseinandersetzung mit Problemfeldern des Anthropozäns erwiesen.“
Die Anfänge des Bandes führen auf die Konferenz „Natur in der Lyrik und Philosophie des Anthropozäns: zwischen Diagnose, Widerstand und Therapie“ zurück, die im März 2019 in Trier stattfand. Organisiert wurde sie von Henrieke Stahl in Verbindung mit Matthias Fechner von der DFG-Kolleg- Forschungsgruppe 2603 „Russischsprachige Lyrik in Transition – Poetische Formen des Umgangs mit Grenzen der Gattung, Sprache, Kultur und Gesellschaft zwischen Europa, Asien und Amerika“ an der Universität Trier in Kooperation mit Harald Schwaetzer (Philosophie) von der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte in Bernkastel-Kues.