Denkenkönnen scheint uns allen von Natur aus gegeben. Aber wie es mit so vielen im Menschen angelegten Fähigkeiten ist – sie liegen häufig brach und werden wenig angewendet, schon gar nicht bewusst entwickelt. Das Denken ist hier keine Ausnahme.
In dieser Reihe von Denklichtern gehen wir dem Phänomen des Denkens nach, wie es im Bewusstsein auftritt. Jeder Mensch kann es beobachten und wir heben hier nur ausgewählte Aspekte hervor, die zu seinem Wesen gehören.
„Mag auch in den Augen Sehen darinnen sein und, wer es hat, es unter Abwesenheit der Farben in ihnen benutzen wollen: Wenn nicht ein drittes Wesen von eigener Art und Natur zu diesen beiden hinzutritt, dann weißt Du, dass das Sehen nichts sieht, die Farben werden aber unsichtbar sein. – Welches nun meinst Du, fragte er, als dieses dritte? – Was Du nun, sagte ich, als das Licht bezeichnest. – Wahr sprichst Du, sagte er. – Also sind durch eine nicht geringe Idee des Sehens der Wahrnehmungssinn und das Vermögen des Gesehenwerdens mit einem weitaus edel-erhabenerem Verbund als anderes in einem gemeinsamen Verbund Stehende verbunden, wenn doch das Licht nicht ohne edle Erhabenheit ist.“
Platon, Der Staat, VI, 507d-508a – Übersetzung von Harald Schwaetzer
Wenn wir in einen dunklen Korridor geraten, atmen wir auf, sobald ein Lichtstrahl – durch ein Fenster oder durch die Glühbirne an der Decke – das Dunkel erleuchtet, und wir uns wieder klar orientieren können. Bereits das Entlangtasten an den Wänden oder das Lauschen auf Geräusche kann Orientierung geben, es bleibt aber viel Unsicherheit. Erst das Licht lässt alle Konturen und Farben hervortreten, so dass wir unsere Schritte sicher lenken können.
Auch in unserem Bewusstsein herrscht viel Dunkelheit, die wir allerdings meistens nicht bemerken (wollen). Wir brauchen ein Licht, das Orientierung in die komplizierten Vorgänge und Aufgaben der Welt, in die auf uns eindringenden Wahrnehmungen – nicht nur die sinnlichen – und in die schattige, halb träumende Welt der Gefühle bringt. Vor allem aber brauchen wir ein Licht, das unser Bewusstsein selbst erleuchtet, damit wir verstehen und bestimmen können, woher eigentlich unsere Urteile, Gedanken und Gefühle kommen.
Wir leben auf unbewusste Weise in der umfassenden, ja mächtigen Welt unserer gewordenen Vorstellungen und Überzeugungen, unserer Erfahrungen und Prägungen, die wir wie aus Reflexen erzeugt haben. Es bedarf dann nur noch eines Reizes, um sie zu aktivieren. Dabei geben sie uns eine scheinbare Orientierung. Viele Menschen bemerken allerdings heute, dass diese Weise zu leben keine tragfähige innere Sicherheit geben kann.
Wie Platon im obigen Zitat bereits erklärt: Hätten wir nur unsere Sinne und die Wahrnehmungswelt der Farben: wir sähen nichts. Wir brauchen das Licht, das beide verbindet. Übertragen wir diesen Gedanken auf uns selbst, dann wandeln wir bei unseren alltäglichen Bewusstseinsvollzügen ständig im Dunkeln – getragen von einem Denken, das zwar Vorstellungen erzeugt, aber unbewusst und schlafwandelnd bleibt. Uns ermangelt dieses „dritte Wesen“, das Transparenz herstellen kann. Wo finden wir also etwas, das wie das Licht der Sonne unser Innenleben erhellt und es wieder mit der Realität verbindet?
Was das Denken lichthaft leistet, erschließt sich uns, wenn wir beginnen zu beobachten, wie das aktiv werdende Denken an die fest gewordenen Vorstellungen und Urteile anstößt. Anfänglich vielleicht nur diese zarte, geistige Tasterfahrung bemerkend. Diese Tasterfahrung eines Neuen, Bewegten im Festen kann man als eine erste Aufhellung, ein Wacherwerden des Bewusstseins beschreiben: Langsam bringen wir unsere zunächst noch festen Vorstellungsbilder und -schemen in Fluss – wir konzentrieren uns auf einen Inhalt und beginnen, ihn wie durch unsichtbare Arme und Hände anzuschieben, aufzubrechen oder zu öffnen. Kann ich das schwindende Alte loslassen und mich mehr und mehr mit meiner eignen Tätigkeit identifizieren, erhellt sich auch der Bewusstseinsraum neu. Das Denken ist ein inneres Licht, das wir während der denkenden Tätigkeit vergessen, weil es immer ein Etwas beleuchtet, das unser Bewusstsein beschäftigt.
Beobachten wir diesen Weg noch genauer, bemerken wir, dass wir es selbst sind, die dieses Licht hervorrufen, wenn wir es auch nicht erzeugen: Wenn ICH aktiv denke, Altes beiseiteschiebe und Gedanken und Ideen hervorbringe, entstehen Klarheit, Transparenz und damit Orientierung.
Diese orientierende Instanz ins Auge fassend, zeigt sich uns, dass das Denken von Natur aus lichthaft ist. Das scheint zunächst nur ein Vergleich zu sein und keine Realität. Wenn nun aber unser Denken erst seine eigene Kraft der Orientierung wahrhaft begreift, indem wir uns bewusst werden, dass es Inhalt wie Form, ja alles, was in uns Idee oder Gedanke ist, erschafft und gleichermaßen sich seiner selbst in diesem Schaffenden ganz bewusst werden kann, dann kehrt sich unsere Erfahrung von Realität möglicherweise um. Dann erleben wir das Sonnenlicht als von der Natur geschenkt und gegeben, das Licht des Denkens aber als Quelle des eigenen Bewusstseins, das uns mit der sinnlichen Welt zusammenschließt. Denn sie gehören wesenhaft zusammen – das Ich, das Denken und die Erscheinungen der Welt.
Platon bemerkte, wie das äußere Sonnenlicht die Wahrnehmung (Farbe) und das Sehvermögen unserer Augen verbindet: Doch die beiden alleine lassen uns im Dunkeln stehen. Aber Platon wusste auch, dass hinter der physischen Sonne eine geistige lebt, von der diese wie ein Abglanz ist. Diese geistige Sonne der Erkenntnis ist das Denken, das sich selbst in seiner reinen und wahrheitsbezogenen Natur ergreift und welterzeugend aus dem Zentrum unseres Ich ausstrahlt. Wahrheit ist daher ein Schöpferisches, das nur aus dem aktiven, eigenständigen Denken heraus entsteht – ganz im Einklang mit den Erscheinungen. Und weil das Denken somit ein Handeln, ein Sich-Verströmen ist, nannte Platon die geistige Sonne auch das Gute.