Schicksalsort Tübingen

von | 06. Juni 2025 | Allgemein, Bericht

Die Universitätsstadt Tübingen war das diesjährige Ziel einer Exkursion, die Studierende des Vertiefungsjahres des Begleitstudiums Philosophie mit Johanna Hueck und Lydia Fechner Ende Mai unternahmen. Hier lesen Sie einen kleinen Rückblick auf die innere Motivation dieses Wochenendes.

Das Wochenende stand unter dem Stern Friedrich Hölderlins (1770–1743), in dessen Lebenslauf Tübingen eine wesentliche Rolle spielte. Das Tübinger Stift, in dem auch heute noch evangelische Theologen mittels Stipendien wohnen und lernen, ermöglichte u.a. das Zusammentreffen und -Denken dreier junger Männer, das in seiner Wirkung auf die Philosophie der Neuzeit seinesgleichen sucht und, aus meiner Sicht, besonders in Zeiten der Dominanz analytischer Philosophie mehr Zukunftskeime enthält als gemeinhin angenommen wird: Hegel, Schelling und Hölderlin – eine Keimzelle für die Philosophie des Deutschen Idealismus.

Ein solcher Keim liegt in dem Versuch des 1797 mit großer Wahrscheinlichkeit entstandenen sog. „Ältesten Systemprogramms“, die Philosophie aus der Einseitigkeit der Theorie in eine „neue Mythologie“ zu überführen, durch deren Wirkung die Einheit von Staat, Religion und Philosophie angestrebt wird. Hegel, Schelling und Hölderlin formulieren diesen berühmten Text gemeinsam in einer Zeit, als sie bereits nicht mehr im Stift leben und ihre Studien beendet haben – ein kühnes, im individuellen Menschen gründendes Zukunftsbild, das die Polarität von Volk und Gelehrten vereinigt, und zwar durch das, was der Dichter, nicht der Philosoph, zu geben vermag: eine lebendige, bildreiche (Sprach-)Form, die sogar die Vernunft übersteigt. In seiner Sprach-, Gedanken- und Bildgestalt nährt und harmonisiert das Gedicht die Seelenkräfte und über diese das im Geist wurzelnde Ich. So verstandene Dichtung wird eben neue Mythologie, sie soll den Menschen veredeln und zu einem höheren Bewusstsein seiner Selbst führen. Staat und Gängelei durch Obrigkeiten – so die Vision – würden überflüssig und der freie Menschengeist könne sich in Gemeinschaft entfalten.

Hölderlin war der einzige der drei, der sich dieser Vision gänzlich verschrieb, Schelling und Hegel „blieben“ klassische Philosophen. Die Studierenden konnten an dem Gedichtentwurf „Wie wenn am Feiertage…“ eindrucksvoll nachvollziehen, wie Hölderlin das hochgesteckte Ideal in bildhafter Verdichtung und höchster Könnerschaft realisiert, zuletzt aber an der schonungslosen Selbsterkenntnis den Abgrund des eigenen Anspruchs nicht durchzutragen vermag und das Gedicht abbrechen muss.

Vor diesem Hintergrund wurden die Besichtigungen des Stifts und des Turmes, in dem Hölderlin die letzten 36 Jahre seines Lebens verbrachte, liebevoll umsorgt von der Familie Zimmer, in sich zurückgedrängt als eine Frühgeburt der Geschichte, zu einem inneren Erleben, das auch jungen Menschen heute zu dem Einruck verhelfen kann, dass es noch kulturelle Keime zu entdecken gibt, die auf eine Entfaltung warten. Die Zeit heute hat es nötig.