Wolfgang Gutberlet und die Mitarbeiter des Philosophischen Seminars haben zusammen zwei „Werdebücher“ herausgegeben: „Denkwanderungen zur Selbsterkenntnis“ und „Ich und Wir: Polarität und Steigerung“. In loser Folge werden wir einzelne Motive, jeweils mit einer Übungsanregung, aus diesen Büchern vorstellen.
I. Wozu brauchen wir Metaphysik?
Metaphysisch nennt man eine allgemeine Aussage, deren Gehalt und Wahrheitsanspruch nicht aus der äusseren Erfahrung gedeckt ist. Sogenannte metaphysische Aussagen sind häufiger, als man denkt. Selbst eine Aussage wie diejenige, dass Gott nicht existiert, ist keineswegs metaphysikfrei. Auch sie enthält ja eine geistige Aussage, nämlich diejenige der Nicht-Existenz Gottes. Und sie wird von demjenigen, der sie aussagt, geglaubt.
Doch reicht die Metaphysik noch viel weiter. Ein Beispiel: Wir alle sind zweifellos der Überzeugung, dass wir sterben werden. Der Tod als Ende des Lebens steht uns sicher vor Augen. Woher wissen wir das? Die naheliegende Antwort lautet: Weil alle Menschen sterben, sterben auch wir. Die Philosophie fragt aber nach: Was heisst „alle“ ? Wissen Sie aus eigener Kenntnis und Anschauung, dass alle Menschen sterben? Offenbar nicht. Sie haben nur einige, nicht alle Menschen sterben sehen. Alles, was bleibt, ist zu sagen: Nun ja, ich meine nicht „alle“ im strengen Sinne, sondern eine Wahrscheinlichkeit: Bislang sind immer alle gestorben, also werde wohl auch ich sterben. Ist es aber das, was wir meinen, wenn wir von der Sterblichkeit des Menschen sprechen? Wohl kaum.
Was wir meinen, ist, dass es zum Menschen gehört, dass er geboren wird und stirbt. Unabhängig davon, um welchen Menschen zu welcher Zeit in welcher Kultur es auch geht: Geborenwerden und Sterben gehören zum Wesen des Menschen. Mit dieser Bestimmung eines „Wesens“ des Menschen, zu dem Geborenwerden und Sterben gehören, verlassen wir aber die sichere Erkenntnis der äusseren Erfahrung. Wir behaupten die Gültigkeit eines Sachverhalts jenseits aller Begründungen aus der Erfahrung. Eine solche Behauptung ist nun aber bereits eine metaphysische. Das zeigt, dass die Frage nach dem Wesen des Menschen oder auch nach dem Wesen einer Sache oder eines Begriffs immer eine metaphysische ist.
Wir gewinnen aus dieser kleinen Überlegung die Einsicht, dass unser Weg zu einem denkenden Ich einer ist, der uns notwendig in das bezeichnete metaphysische Gebiet führen wird.
Übung:
Fragen Sie einmal nach dem Wesen eines Wasserglases. Wohin müssen Sie blicken, wenn Sie diese Frage stellen? Reicht es aus, das Glas anzuschauen?
Aus: Werdebuch 1, S. 50 ff (überarbeitet).