Die Zeit zwischen 200 und 400 spannt sich zwischen Gestalten wie dem griechischen Philosophen Plotin und dem lateinischen Kirchenlehrer Augustinus auf. In diese Zeit fällt ein intensives Ringen, welches zumeist nur als der Übergang von der paganen Spätantike zur christlichen Religiosität und Kaisertum wahrgenommen wird. Doch fallen in diese Zeit auch für die Gegenwart wesentliche Umwälzungen, die Harald Schwaetzer bei seinem Besuch am 16. Februar 2024 auf Einladung des Instituts für Philosophie der Philipps-Universität Marburg (in Verbindung mit Prof. Dr. Alexander Becker, Theoretische Philosophie) diskutiert hat.
Wir freuen uns, im Folgenden Gioias Bericht vom Workshop bringen zu können. Vielen Dank, Gioia!
Nachdem Harald Schwaetzer uns bei seinem ersten Besuch vor ungefähr einem Jahr in die Existenzphilosophie um 1900 eingeführt hatte, sollten wir diesmal in die Welt christlicher Philosophie der Spätantike eintauchen. Wieder begeisterte uns Herr Schwaetzer mit seinem tiefgreifenden Wissensschatz, den er auf seine ganz eigene Weise zu vermitteln weiß: Er nahm uns mit auf eine geistige Reise, auf der wir in vielen Umleitungen, Nebenstraßen und Seitengässchen Mosaikteile aufsammelten, von denen zunächst oft nicht ganz klar war, wozu wir sie brauchten, doch die sich am Ende alle, auf dem Platz, auf dem alle Straßen zusammenliefen, auf wundersame Weise zu einem großen Mosaik fügten.
Wir begannen mit einer Einführung in die Theologie des Origenes. Zentral war für uns hierbei, dass der Logos mit der Taufe Jesu Fleisch geworden sei. Die Zeit bis zur Kreuzigung sei so ein Prozess zunehmender Inkarnation. Der Logos komme dabei von Jenseits des Kosmos, steige durch alle kosmischen Sphären hinab, um schließlich im Leib eines Menschen zu inkarnieren. Schon seit ca. 300 v.Chr. hatten Menschen die Inkarnation des Logos erwartet. Für uns wurde hier klar, wie sehr das Christusereignis sich in die Kosmologie der Zeit gefügt hatte und welche Ausmaße seine Bedeutsamkeit gehabt haben musste.
Anschließend nahmen wir eine Abzweigung zum Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht in der Spätantike und erhielten eine Ahnung, welche Bedeutung das Sakrale einmal in der Gesellschaft gehabt hatte. Wir erfuhren, dass das Heilige eine lange Zeit das Weltliche beherrschte, dass die höchsten Eingeweihten größeren Einfluss hatten als die weltlichen Führer. Mit Iulius Caesar jedoch verschmolz das Amt des Pontifex Maximus, dem „obersten Brückenbauer“, mit dem Amt des Kaisers. Die weltliche Macht hatte die geistliche korrumpiert, was weitreichende Folgen haben sollte.
Eine weitere Weggabelung führte uns zum Text „Über Götter und Kosmos“ von Salloustios, in welchem wir über die Bedeutung von Mythen lasen. Wir analysierten mit Salloustios und Schwaetzer des Chronos‘ Fressen seiner Kinder und den Osirismythos und wagten eine Deutung des Attismythos hin zur Logosinkarnation und zur leiblichen Auferstehung Jesu, was uns wieder zu unseren anfänglichen Überlegungen über Origenes führte. So verstanden wir, welch tiefe Ahnungen über den Kosmos ein Mythos in sich birgt und uns offenbaren konnte.
Nachdem im Workshop schon einige Male das Wort „Kult“ gefallen war, beschäftigten wir uns zuletzt mit dem Mithras-Kult. So begannen wir zu begreifen, was es mit den in der Spätantike verbreiteten Mysterienkulten auf sich hatte und erstaunten, wie groß die Dichte von Kultstätten zu jener Zeit gewesen war.
Harald Schwaetzer hinterließ uns ein wunderschönes Mosaik aus neuem Wissen, geknüpften Zusammenhängen und neuen Gedanken, aber wahrscheinlich mindestens ebenso vielen neuen Fragen. Eine enorme Wissbegierde zu Spätantiker Theologie, Philosophie und Mysterienkult wurde geweckt und wird hoffentlich nie mehr schlafen gehen.