Forschung: Gibt es ein „vorbildliches Scheitern der Phantasie“?

von | 10. September 2025 | Allgemein, Forschung

Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie bietet einen Schwerpunkt zu „Exemplarität und Einbildungskraft“. Darin hat Fabian Warislohner den Briefwechsel von Günther Anders mit dem ‚Hiroshima-Piloten‘ Claude Eatherly untersucht. Sein Beitrag geht von der Frage aus, warum Anders im Briefwechsel Eatherly als Exempel hervorhebt, obwohl dieser gerade daran scheiterte, sich die Ausmaße seiner Beteiligung am Atombombenangriff auf Hiroshima vorzustellen:

Poster Zeitschrift für Praktische Philosophie

Warum sollten wir uns mithilfe der Einbildungskraft ein Beispiel an jemandem nehmen, der sich durch ein Scheitern der eigenen Einbildungskraft auszeichnete? Claude Eatherly, Pilot der Wetteraufklärung für die Atombombe auf Hiroshima, versuchte im Nachhinein, sich die Folgen seines Handelns vorzustellen – und scheiterte. Für den Philosophen Günther Anders gilt Eatherly daher als Beispiel für das heute übliche Auseinanderfallen von dem, was wir Menschen herstellen, und dem, was wir uns vorstellen können: Eatherly konnte sehr wohl zum Atomtod beitragen, obwohl oder gerade weil er ihn sich nicht vorstellen konnte. Darin wird er zum augenöffnenden Exempel für einen weit verbreiteten Mangel an Einbildungskraft, dafür dass Menschen auf eine neue Weise ‚schuldig‘ werden können, weil sie nicht mehr annähernd fähig sind, die Folgen ihres Handelns in ihrem Ausmaß abzusehen. Denn die technischen Möglichkeiten übersteigen die mitgebrachten Auffassungskräfte bei weitem. Zwar dürfte unsere Einbildungskraft durchaus in der Lage sein, uns an Eatherlys Stelle zu imaginieren, da deren Begrenzung nach Anders erst bei den zu großen, jenseits der Einbildungskraft liegenden Folgen einsetzt. Allerdings kann Eatherly bei Anders nicht allein als Exempel für das Scheitern der Einbildungskraft fungieren, wenn er eine ‚Gegenfigur‘ zu Adolf Eichmann darstellen soll. Entsprechend argumentiere ich im Folgenden dafür, dass Eatherly für Anders nicht allein wegen seines symptomatischen Vorstellungsdefizits ein Beispiel ist, sondern darüber hinaus, weil er als einer der wenigen im Nachhinein versucht hat, sein Handeln mit der Einbildungskraft einzuholen. Eatherlys Anstrengungen der Einbildungskraft und sein Eingeständnis des Scheiterns sind damit beispielhaft für Anders’ Forderung einer ‚Ausbildung moralischer Phantasie‘. Mit diesem Begriff beschreibt Anders die Anstrengung der Einbildungskraft, die angesichts des Vernichtungspotenzials der Technik geboten ist. Dabei ist jedoch kritisch anzumerken, dass Anders selbst in der Deutung des Falls einen entscheidenden Teil beigetragen hat – was nicht nur auf die Rolle des Dialogs, sondern auch auf das Potenzial einer gemeinsamen Phantasieanstrengung verweisen dürfte.

Der Artikel geht aus einem Promotionsprojekt an der Universität Hildesheim hervor (über Günther Anders‘ Desiderat einer „Ausbildung moralischer Phantasie“) und auf einen Vortrag bei der Konferenz für Praktische Philosophie im September 2024 in Passau zurück. Er ist bei der Zeitschrift für Praktische Philosophie frei verfügbar. Dank ergeht an dieser Stelle an die Herausgeberinnen des Schwerpunkts, Dr. Katharina Neumann und Dr. Larissa Wallner.