Newsletter Mai 2020

von | 16. Mai 2020 | Newsletter

Liebe Leserinnen und Leser,

wir durchleben turbulente Zeiten, und nahezu jeder sieht sich in der eigenen Situation mit neuen Herausforderungen und einschneidenden Veränderungen des Lebens konfrontiert. Manch jemand mag sich in diesen Tagen auch fragen, was man angesichts der gegenwärtigen Krise – die droht, noch weitere Krisen ans Licht zu bringen – als Einzelner tun kann.

Wir wollen mit diesem Newsletter keine fertigen Lösungen anbieten, sondern anhand einer philosophischen Perspektive auf die Krise und einem kurzen Denklicht ermöglichen, den Blick auf einen weiteren Horizont zu richten.

So wie wir LEBENDIGE PHILOSOPHIE verstehen, regt sie uns einerseits an, mit Hilfe der Bewusstseinsgeschichte unsere aktuelle gesellschaftliche sowie auch individuelle Lage zu verstehen: Wo komme ich her? Welche Voraussetzungen in unserem Denken und in unzähligen Handlungen anderer Menschen bilden die Bedingung dafür, dass wir heute in dieser Lebenssituation stehen? Neben dem, was jetzt und hier zu tun ist, führt zu Orientierung und Gewissheit in einer Lebenslage letztlich ein Wissen über die Entscheidungen, die mich in sie hineinführten – und mich möglicherweise wieder hinausführen. Für unsere Kultur gesprochen ist das die Denkgeschichte heute gültiger Menschenbilder und Paradigmen.

LEBENDIGE PHILOSOPHIE will aber noch mehr. Wir verstehen sie als Raum für eine differenzierte Ausbildung konkreter Fähigkeiten: zum Einen des Denkens, das unsere Beobachtungen erst zu sinnvoller Bedeutung erhebt – zum Anderen, das Wesentliche an den Menschen und Phänomenen wahrzunehmen. Das Zusammengehen von Denken und Wahrnehmen nennen wir Urteilen – und letzteres sicher zu tun, fällt uns gerade in diesen Zeiten besonders schwer. Gleichzeitig muss es das Fundament bilden für alle unsere Entscheidungen, kleine wie große, individuelle wie gesellschaftliche.

Der Philosoph Martin Buber schreibt in seinem Werk Der Weg des Menschen: „Der archimedische Punkt, von dem aus ich an meinem Orte die Welt bewegen kann, ist die Wandlung meiner selbst“. Und somit hoffen wir, Ihnen neben den vielen Informationen dieser Tage ein paar Impulse mit auf den Weg geben zu können, die auf das Thema Ausbildung zielen: Ausbildung von Erkenntnis und Entwicklung unserer selbst in unserer Geschichte – für die Gestaltung einer Zukunft, deren Ruf wir selbst formulieren.

Mit guten Wünschen für Ihre Gesundheit und herzlichen Grüßen,

Ihr Team der LEBENDIGEN PHILOSOPHIE
Lydia Fechner, Paula Kühne, Harald Schwaetzer, Peter Dellbrügger

Die Krise als Zeichen der Überforderung – Interview mit Harald Schwaetzer

Die Online-Zeitung NNA News hat anlässlich der aktuellen Situation ein Interview mit Professor Harald Schwaetzer geführt: Seinen philosophischen Blick auf den Umgang mit den neuen Herausforderungen sowie weiterführende Fragen und Gestaltungsansätze finden Sie hier auf der Website der NNA News.

Viel Spaß bei der Lektüre!

Denklicht: Der sich entwickelnde Mensch als Offenbarung an Gott
von Harald Schwaetzer

„Die moderne Zeit … geht … von der Idee aus, dass nicht Gott sich dem Menschen, sondern dieser sich Gott offenbare, d.h. daß die Vernunft sich die Begriffe vom Wesen und der Beschaffenheit des Menschen, der Natur und Gottes durch eigenes Forschen und Nachdenken allmählich erringen müsse … An Stelle der Idee einer Offenbarung ist die der Entwicklung getreten.“

Gideon Spicker

1898 schrieb der Philosoph Gideon Spicker diese Zeilen. Ihm war wie Nietzsche deutlich geworden, dass die traditionellen Quellen einer Offenbarung durch die Idee einer Autonomie des Menschen ihre Kraft verloren haben. Denn aufgrund seiner in den letzten zwei Jahrhunderten errungenen Freiheit und Urteilsfähigkeit muss er keinen einzigen Inhalt als gegebenen oder überlieferten ohne eigene Prüfung übernehmen. Weder von Gott noch von der Wissenschaft noch von irgendeiner anderen Autorität kann er gläubig eine Offenbarung empfangen.

Statt aber deswegen an aller Offenbarung und Gottes- oder Geisterkenntnis zu verzweifeln, formuliert Spicker eine überraschende Geste: Er kehrt erstens das Verhältnis der Offenbarung um: Nicht Gott offenbart sich dem Menschen, sondern der Mensch Gott. Zweitens denkt er Offenbarung nicht in einer jenseitigen oder kosmischen Sphäre, sondern konkret in der Zeit. So lautet für Spicker die Aufgabe des Menschen, aus seinem Denken heraus ein „Ideal“, wie er es nennt, zu entwickeln.

Ein Ideal ist für ihn eine vom Menschen gedanklich-bewusst durchdrungene Idee, die sich ein Individuum errungen hat, und die es jetzt nicht einfach abstrakt formuliert, sondern – wie wir es von den alten Bildern der Offenbarung kennen – in eine symbolisch-anschauliche Gestalt kleidet.

Dieses innere Bild ist ein sich in der Zeit entwickelndes, lebendiges; es ist selbst immer „entwicklungsfähig“ und „entwicklungsbedürftig“. So ist es auch nicht einfach eine Lösung oder Antwort, sondern eine Frage an Gott. Dadurch wandelt sich auch das Gottesverständnis. Gott wird in der Weise erlebt, dass er die Freiheit und Denktätigkeit des Menschen so würdigt, dass er ihn selbst seine Ideale entwickeln lässt. Dadurch macht Gott keine „Offenbarungs-Vorgaben“ mehr, sondern er ‚bestätigt‘ lediglich die geistige Arbeit des Menschen in der Zeit. 

So sucht Gideon Spicker diesseits traditionellen Offenbarungsglaubens und jenseits modernen Unglaubens einen für das menschliche Individuum auf geistiger Initiative beruhenden Werdeweg freien Denkens einer umgekehrten Offenbarung.

Für ihn ist deutlich, dass andernfalls ein Verhältnis zum Geistigen verschlossen bleibt – ein vielleicht herausfordernder Gedanke, dass damit das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in die Abhängigkeit des Entwicklungswillens des einzelnen Menschen gestellt ist.

Im Oktober beginnt der zweite Jahrgang LEBENDIGE PHILOSOPHIE

15 Menschen aus verschiedensten Berufsfeldern haben sich im Dezember 2019 in die neu entwickelte Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE eingefunden, um gemeinsam lebendiges Denken und Wahrnehmen zu üben – und diese Fähigkeiten in ihre Organisationen und Arbeitsfelder zurückzutragen. Seitdem haben zwei lebhafte Seminare in unseren Räumen des Kloster Macherns in Bernkastel-Kues stattgefunden, in denen sich gezeigt hat: LEBENDIGE PHILOSOPHIE bewegt! 

Ab Oktober starten wir den zweiten Jahrgang: Die Anmeldungen dafür sind ab jetzt geöffnet. Die einjährige Grundausbildung kann in einer Aufbauausbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE ab Oktober 2020 fortgesetzt werden. Die Voraussetzung für die Teilnahme am zweiten Jahr ist die abgeschlossene Grundausbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE.

In unserer Online-Broschüre finden Sie alle Infos zur Weiterbildung. Aktuelles und immer neue Blog-Einträge können Sie auf unserer Website entdecken. Sprechen Sie uns bei Fragen jederzeit gerne an!