Ein besonderer Teil des Anfang Juli in den schönen Tagungsräumen des Bio-Hotels Lindengut verbrachten Weiterbildungswochenendes für unsere Alumni-Gruppe war die Exkursion zu Michaelskirche und Salvator-Dom in Fulda. Im Mittelpunkt der Besichtigung beider Kirchen stand die aufmerksame Wahrnehmung der Kirchenräume, die beide unterschiedlicher nicht sein könnten. Informationen zu Baugeschichte und – besonders im Fall der Michaelskirche – zur sakralen Intention des Gotteshauses flankierten die stufenweise angeleitete, unbefangene Annäherung der Teilnehmer an Atmosphäre und geistige Ausrichtung der jeweiligen Raumgestaltung.
In den Jahren 820–22 erbaut ist die äußerlich zunächst unauffällige Michaelskirche eine der frühesten und bedeutendsten Kirchen Deutschlands. Der Rundbau über acht Säulen war ursprünglich Teil einer riesigen benediktinischen Klosteranlage und diente der Begleitung der Verstorbenen auf ihrem Wege in die nachtodliche Welt. Daher auch die architektonische Anlehnung an die Grabeskirche in Jerusalem.

Die unterirdische Krypta mit einer kurzen Mittelsäule (auch Christus-Säule genannt), um die sich ein rundgehendes Tonnengewölbe windet, bewahrt bis heute die tiefe, konzentrierte Innerlichkeit, aus der die gesamte Kirche herauswächst. In der Vita des damaligen Abts des Klosters und Auftraggebers der Kirche, Eigil, findet sich folgende Beschreibung:
„Der Vater Eigil hat mit Rat und Zustimmung der Brüder eine kleine Kirche errichtet, eine runde,
wo die verstorbenen Leiber der Brüder, der Bestattung übergeben, ruhen,
welche Kirche sie auch Cimiterium nennen,
was Griechisch Koimetorion [Weiheschlafstätte], Lateinisch Dormitorium übersetzt wird.
Die tragende Struktur dieses Weihehauses:
Unterhalb der Erde ersteht sie lebenskraftvoll,
wo eine mit gangbarem Weg versehenene Höhle kreisförmig umläuft,
gebildet durch Bögen von einer Säule aus, die in die Mitte gesetzt ist, nach dort in den Umkreis.
Oberhalb aber von acht Säulen [des Umkreises] erhebt sie sich in die Höhe,
und in der höchsten Stelle wird sie abgeschlossen mit einem einzigen Stein.“
(Übersetzung aus dem Lateinischen von Harald Schwaetzer)
In der niedrigen Krypta stehend, entfaltet sich ein leise angestimmter Gesang so weit, dass man den Eindruck eines unendlichen Hörraumes hat, der wie in den Kosmos hinausreicht; Innerlichkeit und Weite fallen hier im seelischen und sinnlichen Erleben in eins.
Der exakt oberhalb der Krypta sich erhebende Zentralraum mit stufenweise nach oben strebender Öffnung greift diese Stimmung auf und führt durch den lebendigen Strom, der durch die acht Säulen nach oben fließt, ebenfalls zu einem deutlichen und differenzierten Nacherleben der Intention des Baus: dem gemeinschaftlichen Geleit der nach oben in die himmlische Welt ziehende Seele. Hier kommt keine Trauer auf, sondern eine gefasste und lebenskräftige Gestaltung dient zur Unterstützung einer geistigen Schwellenübertritts, den die Mönche bewusst vollzogen.
Den Teilnehmern des Seminars wurde diese wundersame Architektur zum Erlebnis auch einer vergangenen Zeit, in der das differenzierte bauliche Ausgestalten solcher Vollzüge noch selbstverständlich war. So ahnten wir auch die Dimension dieser spirituellen Grundlagen, wenn man lernen konnte, dass die acht Säulen Ausdruck der acht sogenannten Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium war.
Der schräg gegenüberliegende monumentale barocke Dombau vermochte die Teilnehmer nach dieser Wahrnehmung lebensspendender, schlichter Formen und in sich geschlossener Harmonie wenig zu beeindrucken; nun eingestimmt im überschaubaren menschlichen Maß der Michaelskirche, trat die auf Imposanz und Machtwirkung berechnete Überfülle und Masse des Doms auf deutliche Weise hervor. Aber auch diese Kontrastwahrnehmung ermöglichte wiederum eine Schärfung des ästhetischen Urteilsvermögens, und auf die Bildung derartiger Fähigkeiten zielen unsere Seminaren.