Auch wenn Goethe kein Philosoph war und es auch nie sein wollte, haben seine Schriften immer eine Dimension, die oft tiefer reicht als manche begriffliche Abhandlung. In seinem „Märchen“, das als letzte der sieben Erzählungen in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ steht, schildert er in rätselhaften Bildern durch lebendige Figuren die Entwicklung seelischer Kräfte hin zu einer zukünftigen Geisterkenntnis. Die wohl bekannteste Stelle des Märchens – häufig zitiert, um den Wert des Dialogischen mit Goethes Autorität zu untermauern – ist die folgende:
Kaum hatte die Schlange dieses ehrwürdige Bildnis angeblickt, als der König zu reden anfing und fragte: „Wo kommst du her?“ – „Aus den Klüften,“ versetzte die Schlange, „in denen das Gold wohnt.“ – „Was ist herrlicher als Gold?“ fragte der König. „Das Licht,“ antwortete die Schlange. „Was ist erquicklicher als Licht?“ fragte jener. „Das Gespräch,“ antwortete diese.
Ohne den Kontext zu erläutern, können wir dem Dreischritt Gold, Licht, Gespräch nachsinnen. Das Gold steht traditionell für die materielle, irdische Form der Weisheit. Es ruht in den Tiefen der Erde und muss vom Menschen gehoben werden, um seinen zunächst irdischen Glanz entfalten zu können. Gold ist als irdische Manifestation der Weisheit geronnenes Licht, das erst das eigentliche Element der Erkenntnis verkörpert. Nur durch das (geistige) Licht ist dem Menschen Einsicht und Erkennen möglich, es ist kein irdisches, festes Element, sondern eine rein geistige Kraft. Das Gespräch kommt nun an dritter Stelle überraschend. Warum sollte das Element der höchsten Erkenntnis noch eine Steigerung bedürfen?
Das Licht ist „herrlicher“ als Gold, es entfaltet eine größere Pracht. Das Gespräch aber sei „erquicklicher“ noch? Erquicken kann uns nur etwas, das wirklich Leben, nicht nur Glanz und Pracht erzeugt. Im Gespräch geht es nicht mehr nur um den eigenen Aufstieg vom irdischen Gold zur himmlischen Weisheit. Es geht um ein Erkenntniselement (und um Entwicklung von Erkenntnis geht es in dem Märchen), das das Lichthafte in das Individuelle hinein integriert hat und in der Begegnung mit anderen Menschen erst zum Lebensquell macht.
Die Schlange selbst wird kurz zuvor im Text von den (stets vertikalen) Irrlichtern etwas abwertend als „von der horizontalen Linie“ bezeichnet. Sie bewegt sich nicht mit erhobenem Kopf rein erkennend, sondern sucht, nachdem sie innerlich selbst leuchten kann, nach Gesprächspartnern. Goethe verweist hier darauf, dass die Horizontale höher steht als die Vertikale: Wer glaubt, in der reinen Erkenntnis, mit sich und der Wahrheit allein, das wahre Wesen des Geistes erfassen zu können, der täuscht sich aus seiner Sicht. Erst wenn er diese Fähigkeit im Austausch mit anderen öffnet und in Bewegung bringt, kann ein Element erscheinen, das erst am Schluss des Märchens der verwandelte Jüngling ausspricht als die Kraft, die nicht herrscht, sondern bildet: die Liebe.