Newsletter Januar 2022

von | 06. Januar 2022 | Newsletter

Rogier van der Weyden: Anbetung der Könige. Mitteltafel des Columba-Altares, um 1455, München, Alte Pinakothek. – Eine Betrachtung zu diesem Bild des Menschseins finden Sie als Denklicht auf unserer Webseite.

Liebe Leserinnen und Leser,

in Zeiten großer äußerer Unsicherheiten auf vielen Gebieten sind wir zunächst ganz auf uns verwiesen, auf die Sicherheit, die wir uns selbst von innen her geben können, ausgehend vom eigenständigen Denken als Grundlage für eine wirklichkeitsgemäße Urteilsbildung und ein Handeln aus Geistesgegenwart. Aber ebenso sind wir auf den Austausch mit anderen Menschen angewiesen und die Anregungen, die wir durch diesen erfahren können. Dieser ist gerade durch Social Distancing erschwert, doch auch schreibend und lesend ist manches möglich. 

Dem Austausch und der Anregung dient auch dieser Newsletter des PHILOSOPHISCHEN SEMINARS und der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE. Wir berichten über vergangene Ereignisse, neue Publikationen und künftige Vorhaben. Immer geht es um die Auslotung des Menschseins, zu dem auch das Verstehen dessen gehört, was unsere geistigen Vorfahren gedacht und gestaltet haben – ganz im Sinne von Schelling: Auf der Suche nach dem Urwesen, das vor aller Welt zu denken ist, „entdecken sich auch [im Forschenden] neue Abgründe und nicht ohne eine Art von Entsetzen, ähnlich dem, womit der Mensch erfährt, daß seine friedliche Wohnung über dem Heerd eines uralten Feuers erbaut ist, bemerkt er, daß auch in dem Urwesen selbst etwas als Vergangenheit gesetzt werden mußte, ehe die gegenwärtige Zeit möglich wurde“.

Nun wünschen wir eine anregende Lektüre, hoffen aber auch auf viele konkrete Begegnungen im gerade begonnen Jahr 2022! Über Ihre Rückmeldungen, Fragen und Anregungen freuen wir uns!

Ihr Team vom
Philosophischen Seminar und der Lebendigen Philosophie
der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte

Friedrich Wilhelm Schelling (1775-854), nach einem Ölgemälde von Christian Friedrich Tieck, um 1800

DIE WELTALTER: Schelling-Seminar mit Johanna Hueck

Nach den ‚Erlanger Vorlesungen‘ im vergangenen Frühjahr beschäftigte sich eine Gruppe junger MA- und fortgeschrittener BA-Studierender unter der Leitung von Johanna Hueck Mitte November vier Tage lang mit dem ersten Druck von 1811 der ‚Weltalter‘ von F.W.J. Schelling. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand dabei die Frage, wie der Anfang von Allem zu denken ist. 

Den Ausgangspunkt bildeten Überlegungen, welche Voraussetzungen im Menschen gegeben sein müssen, die ihn dazu befähigen, zu einer sogenannten Mitwissenschaft der Schöpfung vorzudringen. Im weiteren Verlauf folgte dann der Versuch, sich der Entwicklung des einen Urwesens, die vor aller Welt zu denken ist und diese erst konstituiert, verstehend anzunähern. Denn ist der geistig Forschende bei Schelling „bey’m letzten Sichtbaren angekommen, findet der Geist noch eine nicht durch sich selbst begründete Voraussetzung, die ihn an eine Zeit weist, da nichts war, als das Eine unerforschliche Wesen, das alles in sich verschlungen enthielt, und aus dessen Tiefe sich alles hervorgebildet; und wenn nun dieses wieder recht im Geiste betrachtet wird, entdecken sich auch in ihm neue Abgründe und nicht ohne eine Art von Entsetzen, ähnlich dem, womit der Mensch erfährt, daß seine friedliche Wohnung über dem Heerd eines uralten Feuers erbaut ist, bemerkt er, daß auch in dem Urwesen selbst etwas als Vergangenheit gesetzt werden mußte, ehe die gegenwärtige Zeit möglich wurde […].“ (WA I, 23f.) 

Dabei darf diese Vergangenheit nicht als abgeschlossene betrachtet werden, beschreibt sie doch die Entwicklung des einen, ewigen Urwesens. Vielmehr – so lernten wir mit Schelling – ist sie in jeder Gegenwart anwesend, insofern sich in ihr je und je neu der Übergang von der Ewigkeit in die Zeit ereignet und damit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als solche erst gebiert. – Sophie Asam

Ein weiteres Schelling-Seminar mit Johanna Hueck soll im Sommer 2022 stattfinden zur Schrift ‚Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit‘ (1809) m Gespräch mit einer parallel dazu entstandenen Abhandlung von Franz von Baader.

Aus der lateinischen Übersetzung von ‚De insomniis‘ des Synesios, Handschrift von 1484

Das TRAUMBUCH DES SYNESIOS

Inwiefern besitzen Träume prophetische Kraft? Dieser Frage geht Synesios von Kyrene (um 370-nach 413) durch eine Untersuchung der Prozesse nach, die sich zwischen den Ideen des Seins (Nous) und dem physischen Leib des Menschen. Dabei beobachtet er zunächst die absteigenden Vorgänge als Abdrücke und Spiegelbilder in der Seele des Menschen, die von der Phantasie als eines aktiven Vermögens aufgegriffen werden können. Doch ebenso richtet er sein Augenmerk auf die aufsteigenden Vorgänge durch Verwandlung des an den Leib gebundenen Pneumas, so dass dieses empfänglich werden kann für die Ideen des Werdens, die der individuellen Seele wie dem ganzen Kosmos innewohnen. 

Anschließend an das Seminar über Schellings Weltalter bemühten sich unter Anleitung von Harald Schwaetzer 13 Teilnehmende – meist Masterstudierende (einige davon aus der vom Philosophischen Seminar unterstützten Initiative ‚Selbstbestimmt studieren‘), die Bilder des christlichen Neuplatonisten Synesios zu verstehen, ausgehend von einer deutschen und einer englischen Übersetzung, dabei immer wieder zurückgreifend auf das griechische Original, in dem manches doch ganz anders klingt. – Diese „Knochenarbeit“, die zugleich anregend ist für die Erforschung der eigenen Seele in ihrer Mittelstellung zwischen Geist und Leib, wird im kommenden Jahr an ausgewählten Textstellen fortgesetzt. – Stephan Stockmar

Die Arbeit am Traumbuch des Synesios wird im Sommersemester 2022 fortgesetzt.

Rembrandt, Selbstbildnis als junger Mann, 1628

INKARNAT

Parallel zur Arbeit am Traumbuch leitete Lydia Fechner Wahrnehmungsübungen anhand von Bildnissen aus verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte an – von ägyptisch-koptischen Mumienporträts über mittelalterliche Darstellungen, Bilder aus der Renaissance (van Eyck, Leonardo da Vinci), dem Barock bis hin zu Cézanne. Immer ging es um die Frage der sich im Bild niederschlagenden Subjekt-Präsenz in den verschiedenen Zeiten. Eine wichtige Rolle spielte dabei, wie sich das Wesen des dargestellten Menschen bis in die Körperfarbe, dem Inkarnat, ausdrückt. Mit Fiona Henze versuchten wir, diesen vielschichtigen Farbton selbst mit Ölfarben zu mischen. Im Hintergrund dieser Arbeit stand u.a. auch ein Auszug aus der Vorlesung von Heinrich Barth ‚Grundriss einer Philosophie der Existenz‘: „Die Existenz in ihrer ‚persönlichen‘ Bedeutung“. – Stephan Stockmar

Nils Baratella (rechts) und Christian Graf stellen sich nach ihren Vorträgen gemeinsam den Fragen. Foto: Kirstin Zeyer

BARTH UND ARENDT in Basel

Bereits zwei Mal musste der Vortragsabend und Workshop zur Frage des Bösen bei Heinrich Barth und Hannah Arendt verschoben werden. Mitte November konnte das Thema schließlich nicht mehr entwischen. Was haben die beiden Denker des 20. Jahrhunderts zum Problem des Bösen – das nun bis heute nicht auf ein „Problem“ beschränkt ist –, zu sagen? Im Philosophicum Basel lenkte Dr. Nils Baratella (Oldenburg) den Blick auf Arendts These von der Zerstörung des Denkens durch totalitäre Politik, getragen von Menschen, denen es an Individualität und Vorstellungskraft gleichermaßen mangelt. Dr. Christian Graf, Präsident der Heinrich Barth-Gesellschaft, stellte seine eigenen Überlegungen zur Banalisierung des Bösen vor, nachdem er die wesentlichen Einlassungen Barths hierzu eingeordnet hatte. Barth gehe es vorrangig darum, das Böse nicht als Seins-, sondern als Erkenntnisfrage zu behandeln. So trägt auch eine Selbstherrlichkeit unbegrenzten Erkennens für Barth Kennzeichen des Bösen.

Nach diesem Vortragsabend, zu dem rund dreißig Gäste, Studierende wie Basler Bürgerinnen und Bürger, gekommen waren, stand beim Workshop am nächsten Tag die Vertiefung der Vortragsthemen im Rahmen gemeinsamer Textarbeit auf dem Programm. Harald Schwaetzer leitete den Tag mit einem Impulsvortrag ein, in dem er auf das Verbindende von Arendt und Barth einging und dies mit der Versuchung Jesu zu veranschaulichen wusste. Im weiteren Verlauf des Vormittags widmeten sich die Teilnehmer einem von Stefan Kaiser MA vorbereiteten Auszug aus Hannah Arendts Aufsatz Thinking and Moral Considerations. Nach der Mittagspause folgte darauf die entsprechende Textarbeit aus der Erkenntnis der Existenz von Heinrich Barth, die mit Pilar Bücker eine Masterstudierende des Philosophischen Seminars eingeleitet hatte. Die Abschlussdiskussion, aus der vor allem der Wunsch nach Vertiefung sprach, mündete in der Generalversammlung der Barth-Gesellschaft. Die nächste Ausgabe des Bulletins der Gesellschaft wird die Veranstaltung ausführlich dokumentieren. – Fabian Warislohner

NEUERSCHEINUNGEN

Anfang des Jahres konnte ein weiterer Band der zahlreichen Vorlesungen des Schweizer Existenzphilosophen Heinrich Barth vorgelegt werden. Es handelt sich dabei um die Vorlesung ‚Augustin der Denker‘, die Barth viermal in jeweils überarbeiteter Fassung an der Uni Basel in den Jahren 1936, 1939, 1943 und 1950 gehalten hat. Damit eröffnet sich nun für die Heinrich-Barth-Forschung ein weiterer, wesentlicher Abschnitt der Barth’schen Auseinandersetzung mit dem christlichen Denker Augustinus. Dieser spielt in der Genese der eigenen Existenzphilosophie eine zentrale Rolle, insofern Barth die Begründung der Freiheit der Entscheidung in wesentlichen Zügen aus dem Denken Augustins gewinnt. 

Der Band ist in der Reihe „Philosophie interdisziplinär“ im Roderer Verlag erschienen und kann dort für 28,95€ erworben werden. – Sophie Asam

Coincidentia

Die vom Philosophischen Seminar und von der Kueser Akademie herausgegebene Zeitschrift ‚Coincidentia‘ ist ungebrochen aktiv. Der jüngste Band unserer nun schon im 12. Jahrgang erscheinenden Coincidentia ‚Universitäten zu denken, zu konzipieren‘ widmet sich die Lage an den Hochschulen, indem er das Ringen um die Gestaltung der Hochschulen und des Akademischen Lebens in früherer Zeit vorstellt und analysiert, um dies mit dem Gegenwärtigem zu kontrastieren. Bedeutende Originaltexte von J.G.Herder (1797), J.V. Snellman (1840), K.H. Scheidler (1835), J.M. Verweyen (1910), H. Cohen (1904) und G. Picht (1950) werden wieder vorgelegt und von Kennern der jeweiligen Zeitgegebenheiten eingehend situiert und erläutert. Der Blick richtet sich dabei auf historische Umbruchphasen, in denen die Frage, wie Universität zu verstehen sei, hervorgerufen durch die äußere Entwicklung, jeweils neue Antworten verlangte. So treten neben Herder, einem Vertreter der Aufklärung, mit Snellman und Scheidler zwei Autoren des frühen 19. Jhds. auf, die einerseits die Idee der Humboldt’schen Universität vertreten, zugleich aber mit dieser die Notwendigkeiten der nun neu geforderten „Ausbildungsuniversität“ verbinden suchen. Das intensivieren Verweyen und Cohen, zwei Wissenschaftler, die die Lage der Universität um 1900 erörtern, einer Zeit, in der die Frage des weltanschaulichen Gehalts von Forschung und Lehre an den Hochschulen im öffentlichen Leben neu thematisiert wird. Picht steht schließlich für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die nach den geistigen Zerstörungen der NS-Zeit eine Neubesinnung des Akademischen und Universitären nötig machte. Das leitet über zu den Herausforderungen für die Hochschulen in unserer Zeit am Beispiel Finnlands: Wie angesichts der Zwänge der neoliberalen Ökonomisierung ein wirklich selbstverantwortetes akademisches Leben noch sein kann. Dies gilt gerade jetzt, da wir auch überzeugende Gedanken zu einem – letztlich naturphilosophisch zu begründenden – neuen „Ort“ für den Menschen in und mit der Natur und Mitwelt bestimmen müssen. Vgl. auch den Newsletter Oktober 2021. Der Band ist hier zu beziehen. 

Der derzeit kurz vor dem Druck stehende neueste Band der Coincidentia ‚Linien des Geistes‘ wird eine Reihe von Aufsätzen enthalten, die verschiedene, noch heute relevante Positionen der Neuzeit in ihren Anschlüssen an antike und mittelalterliche Positionen und ihre Rückgriffe auf diese tatsächlich immer wieder Grund legenden Gedankengänge aufweisen. Denn um Neues kritisch und bestandsfähig entwickeln zu können, ist immer auch der Blick auf die eigene Herkunft und eine Umsicht auf das je Umgebende nötig. – Wolfgang Christian Schneider

Am 22. und 23. Oktober 2019 fand an der Universität Bergamo ein „Convegno internazionale“ über ‚Europäische Naturlyrik nach 1945‘ mit Forscherinnen und Forschern aus Italien und Deutschland statt. Ein Teil der Beiträge ist nun im 4. Band der Internationale Zeitschrift für Kulturkomparatistik (IZFK) erschienen, herausgegeben von Michael Braun, Henrieke Stahl (Kueser Akademie) und Amelia Valtolina. Weitere Beiträge zum Motiv des Baumes werden in einem der kommenden Bände veröffentlicht.

Auch wenn die Natur im Gedicht nach 1945 ihre poetische Unschuld verloren hat, so behält doch das Sprechen über Naturphänomene und Naturkatastrophen seine inspirierende Wirkung auf den Dichter. Im Gespräch zwischen Gedichten, vom Gedicht zum Leser stiftet Naturdichtung weiterhin Erkenntnis, politisch und weltanschaulich. Dabei spielt auch die Transition der poetischen Formen, die jahrhundertlang das Bild der Natur gestaltet haben, eine aufschlussreiche Rolle: Das Naturgedicht nach 1945 schöpft immer wieder aus dem rhetorischen Reservoir der Gattung, sei es aus dem lukrezischen Lehrgedicht oder sei es aus dem Idyll der klassischen Tradition. Und die neuere Naturdichtung stellt unser Anthropozän in Frage, jenseits von Lyrismus und von wohlfeilem ecocriticizm. Aus verschiedenen Perspektiven untersuchen die Beiträge des Bandes von IZfK diese Transitionen und Transformationen der Natur im europäischen Naturgedicht nach 1945. Wie kann man poetisch – und im weiteren Sinne dann auch politisch – über Natur sprechen angesichts ihrer ökologischen „Todesarten“ im 21. Jahrhundert? Welchen Einfluss haben die Naturwissenschaften auf new nature writing? Mit welchen Mitteln werden klassische Genres der Naturpoesie wie Pastorale, Bukolik, Elementar- und Lehrgedicht umgeschrieben? 

In den Beiträgen von Jan Söffner, Camilla Miglio, Lorella Bosco, Michael Braun, Friederike Reents, Jürgen Ritte, Stefano Rozzoni geht es um Dichtungen u.a. von Eugenio Montale, Paul Celan, Thomas Kling, Jean Kriers; Seamus Heaney. Der Band kann hier heruntergeladen werden.

Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 1921, Suhrkamp Verlag

AUCH INTERESSANT: Philipp Sarasin: Eine kurze Geschichte der Gegenwart

Für den Schweizer Historiker Philipp Sarasin stellt das Jahr 1977 eine Art Kaleidoskop dar, unter dem er seine „kurze Geschichte der Gegenwart“ verfasst. In diesem Jahr und drumherum ist auf der Welt erstaunlich viel passiert. Manches verebbte oder wurde in den Hintergrund gedrängt, vor allem aber kündigte sich vieles an, mit dem wir heute selbstverständlich leben. Für Sarasin bildet dieses Jahr einen „Zwischenraum der Zeit“, der uns auf eine Weise bereits fremd geworden ist, in dem sich jedoch Haarrisse ausbildeten, die heute deutlich zutage treten.

Dabei bedient sich Sarasin einer originellen Methode: Jeden der fünf Themenbereiche, die er untersucht – „Herbst der Revolution“, „Menschenrechte, Minderheiten und die Politik der Differenz“, „Die Reise zu sich selbst“, „Kulturmaschinen“, „Im Schatten der Natur“ – beginnt er mit dem Nachruf auf eine Persönlichkeit, die in diesem Jahr verstorben ist: der Philosoph Ernst Bloch, die schwarze Menschenrechtlerin Fannie Lou Hamer, die durch ihre intimen Tagebücher bekannt gewordene Anaïs Nin, der populäre Lyriker Jacques Prévert und der Ökonom Ludwig Erhard.

Einige Schlaglichter: Mit dem Tod von Gudrun Ensslin und Andreas Baader, der Ermordung von Hans Martin Schleyer und Siegfried Buback sowie der Entführung der ‚Landshut‘ durch die zweite Generation der RAF wurde Blochs Prinzip Hoffnung obsolet und die Linke vor eine Zerreißprobe gestellt. Jimmy Carter erklärte die von Hamer und anderen erkämpften Menschenrechte zur Waffe im Kalten Krieg, während die sich selbst findenden Minderheiten und Unterdrückten sich als solche gegenüber dem Rest der Welt definierten. Die eigene Sexualität wurde für viele zum Ausgangspunkt einer Reise zu sich selbst, sei es durch Drogen, Yoga, Gurus oder Psychotherapeuten. Von der écriture automatique der Surrealisten lässt sich eine Brücke zum Spiel am Computer bauen, der sich auf diesem Wege als PC durchsetzt; von dort ist es nicht mehr weit zur „Kulturmaschine“ des 1977 eröffneter Centre Pompidou in Paris. Schließlich landete Ende des Jahres der junge Donald Trump seinen ersten great deal auf dem New-Yorker Immobilienmarkt, ganz im Sinne des auf bloße Konsumfreiheit setzenden Neoliberalismus, der aus der Soziobiologie dieser Jahre seine Berechtigung zog.

Nicht zuletzt durch die Musikaffinität des Autors, der immer wieder die Ereignisse der Subkulturen einfließen lässt, liest sich Sarasins „kurze Geschichte der Gegenwart“ wie ein Roman, der eine Zeit in Erinnerung ruft, die mancher Leser zwar gerade noch selbst miterlebt hat, die aber zugleich weit weg zu sein scheint, auch wenn aus ihr heraus die Gegenwart bis in die Tagespolitik auf neue Weise verständlich wird – seien es die sogenannte cancel culture, das Gendern, das Kräftemessen mit dem Staat, die Spaltung der Gesellschaft auf den verschiedenen Ebenen oder die Rolle von Internet und social media und nicht zuletzt die sich bereits in den 1970er Jahren deutlich ankündigenden „Grenzen des Wachstums“ im Hinblick auf die Zerstörung der Umwelt . – Stephan Stockmar