Wolfgang Gutberlet und Mitarbeitende des Philosophischen Seminars haben zusammen zwei „Werdebücher“ herausgegeben: „Denkwanderungen zur Selbsterkenntnis“ und „Ich und Wir: Polarität und Steigerung“. In loser Folge stellen wir einzelne Motive aus diesen Büchern vor. – Die Teile III–V knüpfen aneinander an.
Was hat die Frage nach der menschlichen Existenz mit dem Wahrheitsbegriff zu tun? Was meint Heinrich Barth, wenn er von „existenzieller Wahrheit“ spricht?
Barth betont, dass diese Form der Wahrheit nicht nur einen „erhellenden“ Charakter hat, also ein Evidenzerlebnis im theoretischen Denken hervorruft, sondern als Erkenntnis zugleich einen Rückschlag auf das erkennende Subjekt impliziert und somit „verpflichtenden“ Charakter annimmt. Einen solchen Charakter kann aber nur eine Form der Wahrheit haben, die die Existenz zur Verantwortung ruft.
Eine existenzielle Wahrheitserfahrung lässt sich nicht von der in ihr liegenden Handlung trennen – wie dies in der theoretischen Wahrheit über eine Sache möglich ist. Existenz hat sich für Barth in ihrer wortwörtlichen Fragwürdigkeit vor der existenziellen Wahrheit zu rechtfertigen, denn:
„Alle Vernunft steht in der Frage nach der Wahrheit. Nicht nur nach der Wahrheit der Wissenschaft, sondern nach derjenigen Wahrheit, mit der wir stehen und fallen! Diese Wahrheit ist uns nicht verfügbar; sie steht nicht im Dienste beliebiger menschlicher Begehren. Solche Unverfügbarkeit wird von der Philosophie als ‚Transzendenz‘ bezeichnet. Die Transzendenz der Wahrheit bedeutet, daß sie nicht als ein Exponent der menschlichen Existenz ausgelegt werden kann. Von der Wahrheit, als von der Krisis der Vernunft, wird vielmehr diese Existenz in Beschlag genommen und in die Verantwortung gerufen.“
Existenzielle Wahrheit – das macht dieses Zitat deutlich – meint hier kein System aus fertigen moralischen Gegebenheiten, an dem Entscheidungen auszurichten sind, sondern vielmehr einen unverfügbaren Quellpunkt existierender Wirklichkeit. Barth vergleicht die existenzielle Wahrheit mit der Idee des Guten bei Platon und verweist zugleich auf den johanneischen Wahrheitsbegriff im Neuen Testament, nach dem existenzielle Wahrheit so viel wie „die Wahrheit tun“, „aus der Wahrheit sein“, „in der Wahrheit stehen“ bedeute.
Aus: WerdeBuch 2, S. 163ff, etwas verändert.
Siehe auch Wege zum Werden III: Existenzphilosophie als Vollzug des Menschseins und V: Gemeinschaft aus der Erkenntnis des Anliegens.