Wege zum Werden V: Gemeinschaft aus der Erkenntnis des Anliegens

von | 01. Dezember 2022 | Denklichter

Paul Klee, Mit der rotierenden schwarzen Sonne und dem Pfeile

Wolfgang Gutberlet und Mitarbeitende des Philosophischen Seminars haben zusammen zwei „Werdebücher“ herausgegeben: „Denkwanderungen zur Selbsterkenntnis“ und „Ich und Wir: Polarität und Steigerung“. In loser Folge stellen wir einzelne Motive aus diesen Büchern vor. – Die Teile III–V knüpfen aneinander an.

Einem Interesse, das in Gemeinschaft verfolgt wird, fehle die Ausrichtung auf die „existenzielle Wahrheit“, so Heinrich Barth. Es kenne keine „Krisis der Verantwortung für die richtige oder verfehlte, haltbare oder unhaltbare Entscheidung“. „Interesse“ ist also eine intentionale Ausrichtung, die sich mehr im theoretischen Bereich der Erkenntnis abspielt.

Dagegen stellt Barth den Begriff des Anliegens. Er versteht ihn so, dass er mit dem Menschen als Ganzem untrennbar verbunden ist. Was bedeutet das für unsere Suche nach einer Form der Gemeinschaftsbildung, die sich von der Interessensgemeinschaft kategorial unterscheidet?

Anders als das Interesse, das als intentionale Ausrichtung auf einen bestimmten Zweck zu verstehen ist, fasst Barth den Begriff des Anliegens so auf, dass in ihm die Bezogenheit und Ausrichtung des Menschen auf existenzielle Wahrheit und damit auf die Sinn-Frage, auf eine Kohärenz mit dem eigenen Schicksal, mit dem, was als Berufung der je individuellen Biographie als persönliche Existenzfrage zugrunde liegt.

Da es nun, laut Barth, keinen Bereich der menschlichen Existenz gibt, in dem es nur um Interessen geht, in dem nicht auch „Anliegen auf dem Spiele stünden“, stellt sich die Frage, wie die Gemeinschaftsbildung auf der Grundlage von den Anliegen der Menschen stattfinden kann?

Es ist deutlich geworden, dass Barth das Anliegen als den je individuellen biographischen Sinnzusammenhang in seiner Ausrichtung auf die „existentielle Wahrheit“ versteht. Insofern lassen sich die Anliegen der Einzelnen aber nicht auf dieselbe Weise zusammenfassen in einem gemeinsamen Anliegen, wie das bei dem Interesse der Fall ist. Ein gemeinsames Anliegen setzt systematisch die Berücksichtigung der Anliegen der Einzelnen voraus, denn der einzelne Mensch würde „mit dem Auslöschen seiner Anliegen zunichte“. Gemeinschaftsbildung unter diesen Voraussetzungen heißt, dass dem Einzelnen „das Selbst und der Andere in seinem existenziellen Anliegen zum eigenen Anliegen wird“.

Dies bedeutet, dass der Andere für mich nicht nur aufgrund meiner Interessen bedeutungsvoll wird, es bedeutet aber auch, dass ich den Anderen ebenso wenig nur in seinen Interessen wahrnehme. Hier wird vielmehr der Anspruch erhoben, dass mit der Ausrichtung auf die „existentielle Wahrheit“ die scheinbare Unmöglichkeit des Miteinanders von mehreren individuellen geistig-seelisch-leiblichen Biographien nicht zu einem Widerspruch von Interessen führt, sondern dass gerade das Zusammenklingen der je individuellen Menschen die Qualität der Gemeinschaft ausmacht. Auf dieser Ebene widersprechen sich Individualität und Gemeinschaft nicht, sondern sie bedingen sich vielmehr. Je individueller und authentischer in der Ausrichtung auf „existentielle Wahrheit“ der Einzelne ist, desto mehr Gemeinschaft wird möglich.

Übung:

Versuchen Sie, schriftlich einige Ihrer existenziellen Anliegen zu formulieren. Wenn es Ihnen hilft, teilen Sie diese auf in persönliche und berufliche Anliegen. Wo haben Sie bereits eine Gemeinschaft von Menschen gefunden, die Ihr Anliegen teilen, wo vielleicht (noch) nicht? Wenn nicht, woran könnte es liegen?

Aus: WerdeBuch 2, S. 165ff, etwas verändert.

Siehe auch Wege zum Werden III: Existenzphilosophie als Vollzug des Menschseins und IV: Existenzielle Wahrheit.