Wolfgang Gutberlet und Mitarbeitende des Philosophischen Seminars haben zusammen zwei „Werdebücher“ herausgegeben: „Denkwanderungen zur Selbsterkenntnis“ und „Ich und Wir: Polarität und Steigerung“. In loser Folge stellen wir einzelne Motive aus diesen Büchern vor. – Die Teile III–V knüpfen aneinander an.
Als Existenzphilosoph, der den Menschen in seinem konkreten physisch-seelisch-geistigen Wesen in den Blick nimmt, geht Heinrich Barth (1890–1965) davon aus, dass Wahrheit nicht nur im Bereich der Theorie, also im Bereich des Nachdenkens über ein bestimmtes Dies-Da, vorkommt. Auch der Bereich des praktischen Existenzvollzuges des Menschen steht für Barth im Kontext der Wahrheitsfrage.
Um zu verdeutlichen, was das heißt, ist hier zunächst der Blick darauf zu richten, was Barth unter „Existenz“ eigentlich versteht:
Wie allen Existenzphilosophen bedeutet ihm Existenz vornehmlich „Existenz des Menschen“. Über die Existenz des Menschen zu philosophieren, birgt aber eine Schwierigkeit in sich: Weil wir aus unserem Vollzug des Menschseins nicht heraustreten können, können wir sie immer nur aus der Innenperspektive erkennen und nicht, wie z. B. gegenüber der unbelebten Natur, als objektivierte theoretische Erkenntnis von außen feststellen. Deshalb versucht die Existenzphilosophie, zu einer Form des Denkens anzuregen, das eine Handreichung bietet für den bewussten Vollzug der eigenen Existenz.
Dabei besteht die Schwierigkeit darin, diesen Vollzug in seiner integralen Vollständigkeit zu fassen, denn es geht der Existenzphilosophie gerade darum, der menschlichen Existenz nicht durch Abstraktion Abbruch zu tun.
Diese menschliche Existenz zeichnet sich dadurch aus, dass sie immer im Vollzug existiert, immer eine Werdende ist (vgl. Werdebuch 1). Im Unterschied zu einem Geschehen oder Werden in der Natur ist der Mensch immer ausgerichtet auf ein bestimmtes Ziel – der philosophische Fachterminus ist hier „Telos“. Menschliches Handeln ist intentional, auf ein Telos gerichtet, durch das irgendetwas verwirklicht werden soll. Demgegenüber sind Vorgänge in der Natur durch eine gewisse Gesetzmäßigkeit (z. B. im Mineral- und Pflanzenreich) geprägt oder durch Instinkte geleitet (z. B. im Tierreich).
Der Mensch kann sich auch gegen die Naturgesetze oder gegen seine eigenen Instinkte richten. Das macht seine Möglichkeit zur Freiheit, aber auch zum Bösen aus. Er kommt nicht umhin, sich immer und immer wieder die Frage zu stellen nach dem, was sein soll.
Der existenzielle Vollzug zeichnet sich im Verständnis von Heinrich Barth dadurch aus, dass ein (Noch-) Nicht-Seiendes entworfen und damit gedanklich vorweggenommen wird. Es wird als Sein-Sollendes antizipiert, z. B. in dem ich mir vornehme, einen solchen Text zu schreiben und mit jedem Wort, das ich schreibe, einerseits mein Vorhaben bestätige und andererseits mir vornehme, das nächste Wort auch noch zu schreiben. Ob ich tatsächlich weiterschreibe, steht nach jedem Wort wiederum zur Frage. Es könnte ja sein, dass ich müde werde, meines eigenen Schreibens überdrüssig oder dass mich jemand oder etwas ablenkt.
Existieren bedeutet infolgedessen ein entwerfendes Heraustreten in den Horizont offener Möglichkeiten des Menschseins. Die menschliche Existenz existiert in der Frage nach dem, was sein soll, also was im existenziellen Entwurf in den Horizont offener Möglichkeiten treten soll. In dem Erwägen dessen, was als das Vorzügliche erkannt und entworfen wird, steht der Mensch unablässig in der Existenzfrage und somit in einem Erkenntnisprozess.
Aus: WerdeBuch 2, S. 161f, etwas verändert.
Siehe auch Wege zum Werden IV: Existenzielle Wahrheit und V: Gemeinschaft aus der Erkenntnis des Anliegens.