Zeitenwende – Morgengedanken von Wolfgang Gutberlet

von | 23. April 2023 | Denklichter

Eduardo Chillida, Ein Haus für Goethe. Frankfurt am Main, Taunusanlage

Es wird fast bedrohlich ausgesprochen: Wir stehen an einer Zeitenwende! Wendet sich die Zeit? Sind es nicht wir, die uns in der Zeit wenden? Das erinnert mich an einen Brief von Schiller an Wilhelm von Humboldt, kurz vor seinem Tod, in dem er feststellt: „Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu laßen, daß die Dinge uns formten, und nicht wir die Dinge“ (2.4.1805).

Ist dies nicht die Aufforderung, dass wir uns zu wenden haben? Doch wohin sollen wir uns wenden? Die Gedanken, die sich manche Menschen dazu machen, werden von anderen als esoterisch bezeichnet. Das heißt doch aber, wenn wir nicht esoterisch denken, lassen wir uns exoterisch gestalten, nämlich von den Dingen…

Wenn wir schon von Zeitenwende reden, dann müssen wir darüber reden, wohin wir uns wenden wollen. Oder sollen? Wer aber bestimmt dann, in welche Richtung wir uns zu wenden haben? Es geht ja nicht um das Wenden an sich, denn wenn wir werdende Menschen sind, dann wenden wir uns täglich. Die Frage ist, ob wir uns jetzt gemeinsam in eine Richtung wenden und wem wir dabei folgen sollen. Rennen ohne Ziel ergibt noch keine Transformation. Wir müssten erst ein Ziel für uns erkennen und uns dann die Informationen über den Weg dahin suchen.

Die moderne Philosophie und die Naturwissenschaft – beide verbinden sich im Augenblick sehr stark – kommen überwiegend zur Überzeugung, dass es kein Wesen über dem Menschen gibt. Dafür suchen sie umso intensiver, ob es ein Wesen ähnlich dem Menschen gibt – irgendwo anders im Kosmos.

Doch was bedeutet es für uns, wenn wir denken, dass es kein Wesen über uns gibt? Was bedeutet es für die Frage nach der Gestaltungshoheit für eine Zeitenwende? Da gibt es bereits Menschen und Menschengruppen mit diesbezüglichen Gedanken oder Ideologien. Wer darf herrschen und wer muss beherrscht werden, damit die Herrschaft nicht gefährdet ist? Und wie sicher müssen diese Beherrschungsverhältnisse sein, damit sie für den Herrschenden nicht gefährlich werden?

Die Welt hat sich von Revolution zu Revolution fortentwickelt. Man kann kaum glauben, dass diese Reihe zu Ende ist. Selbst Mephisto sagt im Faust von Goethe: „Wo so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, / stellt er sich gleich das Ende vor.“ – Die Entwicklung muss sich zum Guten wenden, und wenn es noch nicht gut ist, dann war es noch nicht das Ende: Das wäre eine hilfreiche Haltung.

Eigentlich müssten wir jeden Tag mit der Frage aufwachen: Wohin soll ich mich wenden? Das ist nicht nur eine Frage nach der Macht über mich, sondern vor allen Dingen eine Frage nach der Macht in mir. Es ist die Frage nach der Esoterik. Will ich leugnen, dass es ein höheres Wesen über mir gibt, das mir eine Entwicklungsmöglichkeit auch zum Höheren zeigt und mich zu innerem Wachstum erzieht? Will ich mich diesbezüglich aufgeben und mich der Philosophie eines Yuval Noah Harari anschließen, wie er sie z.B. in „Homo Deus“ entwickelt? Will ich warten, bis die Mächtigen den Kampf um die Alleinherrschaft ausgetragen und eine herrschende Klasse gebildet haben, die Ungehorsam in ihrem Sinne sofort bestraft?

Goethe weist darauf hin, dass der Gedanke an ein Wesen über den Menschen uns eine Steigerungsmöglichkeit und einen höheren Wert gibt. Wenn dieser Gedanke fehlt und wir uns Menschen selbst als das höchste Wesen sehen, dann stellt sich die Frage, wer der Herrscher unter den „Gleichen“ sein kann und darf. Das führt aber zu einer Erniedrigung des größten Teils der Menschen.

Mein Vater hat immer gerne das Lied gesungen: „Alle Tage ist kein Sonntag / Alle Tag gibts keinen Wein / Aber du sollst alle Tage / Recht lieb zu mir sein / Und wenn ich einst tot bin / sollst du denken an mich / Auch am Abend eh du einschläfst / Aber weinen darfst du nicht.“ Er bezog dieses Volkslied auf seine Partnerin.

Ich habe in meinen Morgengedanken dieses Lied einmal in Bezug auf die göttliche Partnerschaft umgetextet: „Alle Tage ist kein Sonntag / alle Tage gibts kein Wein / Aber du sollst alle Tage bewusst von mir sein / Und wenn du bist weltvergessen / Sollst du denken an mich / Bei jeder Weltgestaltung / Aber jammern sollst du nicht.“