„Wer ist nun aber am ehesten befähigt, den in die Erscheinung tretenden Menschen – den Menschen, wie er uns vor Augen tritt – in dem, was er „ist“, zu erkennen? Offenbar derjenige, der ihn am besten zu sehen vermag. Dies ist aber derjenige, der ihn am besten und tiefsten aesthetisch zu erfahren in der Lage ist. Wahrscheinlich ist es der Vertreter der bildenden Kunst, z.B. der Porträtist. In der aesthetischen Sicht des begegnenden Menschen haben wir sein reines, ungebrochenes In-die-Erscheinung-Treten zu erwarten. Sie ist „reine“ Sicht, sofern sie nicht durch irgend einen Begriff, ein Vor-Urteil, eine Erwartung in Beschlag genommen, nicht durch irgend welche vorgreifende, dazwischentretende Vorstellung getrübt, gebrochen, verfälscht wird. Wer z.B. jemanden mit dem Gedanken ansieht, daß er ihm in bestimmter Hinsicht nützen kann, sieht „ihn“ nicht; er tritt ihm nicht rein in die Erscheinung.“
Heinrich Barth, Grundriss einer Philosophie der Existenz, S. 88.
Das Porträt der Barbara Vlaendenbergh von Hans Memling (1433/40–1494) hängt im Königlichen Museum der Schönen Künste in Brüssel. Es ist eine Tiefwinterbegegnung Anfang Januar, die mir dieses Bild offenbart. Schon öfter habe ich mit Studierenden den Text von Heinrich Barth bearbeitet, aus dem das obenstehende Zitat stammt. Und hier, in diesen kühlen Museumsräumen, war wieder das unmittelbare Erleben der Wahrheit dieser Barthschen Einsicht, dass der gute Porträtist das Wesen eines Menschen in die Erscheinung treten lassen kann.
Die junge Frau, die vor einem offenen Fenster, das eine Landschaft freigibt, im Halbprofil gemalt wurde, schaut den Betrachter nicht an. Sie hat die Hände zum Gebet gefaltet und ist konzentriert nach innen gerichtet und in Kontemplation versunken. Das Frappierende hierbei ist, dass sie – trotz unprätentiöser Mimik und Gestik – auf so unmittelbare Weise präsent erscheint, dass ihr Wesen, aber auch ihr Charakter in diesem Moment wie aus der Zweidimensionalität heraustritt: nicht äußerlich gemeint – es bleibt selbstverständlich ein Bild – aber als qualitative Erfahrung eines „Hier und Jetzt“. Dadurch geschieht es, dass uns der Gesichtsausdruck der jungen Frau, trotz zeitbedingter Kleidung und Haartracht, auf eine lebendige Weise wie, ja als eine Zeitgenossin entgegentritt. Sie wirkt somit in all ihrer Innerlichkeit selbstbewusst und fokussiert, von einem deutlichen, sehr persönlichen Willen durchleuchtet. Der Maler erreicht dies durch eine atemberaubende Genauigkeit, die besonders im Inkarnat ihrer sinnlichen Präsenz bis in die letzte Hautpore hinein nachspürt. Der transparente Schleier markiert zur gleichen Zeit eine diskrete Grenze, die sie selber zu ziehen scheint, und die Anmutung einer Art Aura, die mehr enthüllt als verbirgt.
Heinrich Barth hat wohl Recht mit seiner Beobachtung, dass ein solcher Blick auf einen Menschen selbst ein Kunstwerk darstellt – sei man nun Maler oder nicht. Am Miterleben eines solchen Kunstwerks kann man diesen Blick üben, im Leben wird er sich bewähren müssen. Wir haben in der heutigen Zeit mehr denn je nötig, das wahrhaft Individuelle unserer Mitmenschen sehen zu lernen.