Denkenkönnen scheint uns allen von Natur aus gegeben. Aber wie es mit so vielen im Menschen angelegten Fähigkeiten ist – sie liegen häufig brach und werden wenig angewendet, schon gar nicht bewusst entwickelt. Das Denken ist hier keine Ausnahme.
In der folgenden Reihe von „Denklichtern“ gehen wir dem Phänomen des Denkens nach. Wie tritt es im Bewusstsein auf? Welche Facetten zeigen sich hier? Wie kann es entwickelt werden?
Dabei heben wir aus der Fülle und Komplexität einige ausgewählte Aspekte hervor, die zu seinem Wesen gehören.
Eine zur Gewohnheit gewordene und problematische Verwechslung hindert uns daran, überhaupt zu bemerken, dass wir die meiste Zeit nicht denken, auch wenn wir es meinen: die Verwechslung von Wissen (oder Lernen) und dem wirklichen Denken.
Unser ganzes Bildungssystem (oder was davon übrig ist) ist darauf angelegt, dass wir zu verstehen glauben, indem wir uns Wissen aneignen – meist unabhängig von dem, was wir wahrnehmen. Ist ein Interesse geweckt oder steht die Notwendigkeit an, dass ich mir einen Teil der Welt, sei es Natur, Gesellschaft, Politik oder Kunst aneignen möchte oder muss, so suche ich nach Erklärungen, die mir so gut wie immer in Form von außen gegebenen Vorstellungen irgendwo zur Verfügung gestellt werden. Dazu dienen Lexika, Schul- und Sachbücher aller Art, Vorträge usw. und – heute vor allem – ihre Entsprechungen im Internet. Medien (auch Bücher) sind aus dieser Perspektive betrachtet enorme Vorstellungssammlungen, die täglich anwachsen. Den Umgang mit solchen gegebenen Vorstellungen nennen wir fälschlicherweise Denken.
Unser Intellekt nimmt diese Informationen auf und verbindet sie miteinander zu einem großen Netzwerk von zumeist nicht sehr individuellen Vorstellungen. Daran werden Leistungen messbar, wir tragen sie als Wissen mit uns und vor uns her, begründen damit – ob am Stammtisch oder in der Universität macht da keinen Unterschied – unsere Weltsicht und bewundern oder bekämpfen diese bei anderen. Bestenfalls entstehen hieraus wissenschaftlich fundierte Debatten, die sich auf Argumente stützen. Aber dabei handelt es sich nicht um Denken.
Denn Denken ist etwas anderes als dieser Umgang mit gegebenen Vorstellungen. Dass das Denken beim Verbinden von Vorstellungen eine Rolle spielen kann, will ich nicht leugnen. Das geschieht, wenn wir Vorstellungen einfach verknüpfen, dies wie zufällig geschehen lassen in unserem Bewusstsein. Wenn wir argumentativ verfahren, um liebgewordene Vorstellungen zu bestätigen, dann benutzen wir das Denken gewissermaßen wie einen Schuhabtreter. Das Denken bietet das passive Widerlager für unsere Vorlieben, eine ungute Mischung aus Emotionen und Vorstellungen; es muss das bereits Festgewordene immer neu zusammenhalten und damit bestätigen. Wir haben das Denken zum Sklavendasein degradiert. Denktätigkeit und Denkinhalt sind nicht in Deckung, weil das Ergebnis des Denkens von vornherein feststeht.
Denken ist aber genau das Gegenteil. Es ist reine Bewegung und stützt sich nicht ab auf das geronnene Vorgestellte, schon Bekannte. Es bestätigt nicht, es findet und entdeckt. „Heureka“ / „Ich hab’s gefunden“ rief Archimedes, als ihm (bekanntlich in der Badewanne) eine neue Einsicht kam. Denken beginnt genau dann, wenn ich es will, und hört genau dann auf, wenn ich ihm nicht mehr meine hundertprozentige Aufmerksamkeit schenke. Und zwar ES SELBST, nicht ein Ergebnis oder eine Erklärung für etwas.
Das Denken entfaltet sich mit meiner Denkkraft und schafft unablässig Begriffe und Ideen aus den ihm eigenen Bewegungen, die ich wollen, aber nicht bestimmen kann. Denn es folgt in seiner Bewegtheit eigenen Gesetzen; eine sich nur am Inhalt des Gedankens orientierende Kraft, die sich jenseits von Willkür und Notwendigkeit entfaltet. Jeder Gedanke erscheint auf von mir gewollte und bewegte und hier unmittelbar in der Zeit durchgetragene und die Zeit tragende Weise; er verbindet sich mit einem anderen. In dieser Verbindung entsteht erst Wirklichkeit, Welt – die „Alten“ hätten Kosmos gesagt, den sie nie unabhängig vom Menschen dachten. In diesem (kosmischen) Moment suche ich nicht nach Sinn, d.h. nach einer Aufhebung von Getrenntheit, denn ich bin ja dabei und mittendrin und genau dort, wo die Welt der Ideen als bewegte Kraft in ihrem schöpferischen Potenzial in Erscheinung tritt.
Zwischen Gedanke und Gedanke ist jeweils ein unscheinbarer Abgrund, ein Freiraum, der aus der Entscheidung entsteht, weiterzugehen und einen neuen Gedanken aus dem vorigen hervorgehen zu lassen. Diesen Abgrund der Freiheit kann ich nicht nur in einen weiteren Gedanken, sondern in eine neue Vorstellung führen, die ich beizeiten wieder auflösen kann und – wenn ich will – sogar in eine äußere Handlung. Die Erfahrung solchen Denkens zwingt mich nicht zu irgendetwas, aber sie eröffnet eine neue Welt von Möglichkeiten.
Da entsteht kein philosophisches Wolkenkuckucksheim. Jenes Denken erst führt mich zur Wirklichkeit, denn es bildet sich (und mich) in einem einzigen Akt, den ich mit ihm und durch es hervorbringe. Nur hier in dieser Tätigkeit bringe ich selbst – wirklich denkend – eine Wahrnehmung hervor, deren Begriff ich nicht zu dieser hinzufügen muss, um zu erkennen: Im Bewegen des Denkens selbst liegt alle Realität.
Denn das wirkliche Denken gibt sich ganz selbstlos dem hin, der denkt; das ist seine wirkmächtige Ohnmacht, die in reiner, gewollter Bewegung die Identität eines Ganzen stiftet, insofern es auf mich angewiesen ist.
Jeder Mensch kann denken, er muss nur lernen, damit zu beginnen.