Denkenkönnen scheint uns allen von Natur aus gegeben. Aber wie es mit so vielen im Menschen angelegten Fähigkeiten ist – sie liegen häufig brach und werden wenig angewendet, schon gar nicht bewusst entwickelt. Das Denken ist hier keine Ausnahme.
In dieser Reihe von Denklichtern gehen wir dem Phänomen des Denkens nach, wie es im Bewusstsein auftritt. Jeder Mensch kann es beobachten und wir heben hier nur ausgewählte Aspekte hervor, die zu seinem Wesen gehören.
„Alles Erkennen (intellectus) erstrebt Sein.
Nikolaus von Kues: Über die Weisheit, Buch I, n.13 (aus dem Lateinischen von Harald Schwaetzer)
Sein Sein ist sein Leben, sein Leben ist Erkennen.
Sein Erkennen ist weidend genährt zu werden mit Weisheit und Wahrheit.“
Denken und Erkennen gelten gemeinhin als abstrakte, theoretische und damit praxisferne Gebiete. Von einem bestimmten Gesichtspunkt aus stimmt das natürlich. Denken erscheint vielen als das Gegenteil des prallen Lebens; es spielt scheinbar keine Rolle da, wo aktive Menschen zupackend gestalten, das Leben genießen und intensiv erleben wollen. Gerade das Erleben-Wollen spielt eine wesentliche Rolle in der heutigen Zeit. Erlebnisurlaub, Erlebniseinkauf, Erlebnis Technik und nicht zuletzt das Erfolgserlebnis. Denn ebenso wie das Erlebnis, zählt das Ergebnis: von dem gebratenen Stück Fleisch auf dem Teller bis zum vorzeigbaren Start-up: Viele, sich selbst als praktisch verstehende Menschen, überzeugt nur das, was zwischen den Zähnen genussvollen Widerstand bietet, die Investition gelohnt hat, den Status erhöht. So begegnet uns – hier sehr vereinfacht dargestellt – das praktische Leben. Man kann es anfassen, essen, messen und zählen: das gute Leben, die wahre Wirklichkeit!
Wer sich dem Erkennen – Nikolaus von Kues sagt „intellegere“ – widmet, fristet heute oftmals eine wenig beneidenswerte Existenz. Er muss sich vor den Praktikern rechtfertigen, und zumeist erliegt er den gesellschaftlichen Erwartungen.
Wenn wir jetzt das kurze Zitat des Denkers auf uns wirken lassen, dann wird uns hier zunächst versprochen, dass im denkenden Erkennen das Sein liegt. Die wahre Wirklichkeit, der Ort, wo das Lebendige seinen Ursprung hat, läge hier also eben gerade nicht in der äußeren, bereits gegebenen, sinnlichen Welt, sondern in der reinen Erkenntnistätigkeit. In einem nächste Schritt bringt Nikolaus dieses Sein zusammen mit dem Leben, das aber wiederum ein Erkennen ist. Und in einem letzten, dritten Schritt folgt die Aussage, dass dieses Erkennen uns mit Weisheit und Wahrheit „weidend nährt“. Nikolaus von Kues findet somit die Kraft zum Leben dort, wo viele von uns es am wenigsten vermuten. Was könnten nun die Konsequenzen sein?
Trotz all der Erlebnismöglichkeiten und Zweckorientierung umgibt uns eine Welt des Lebenskraftverlustes. Bei den meisten Menschen ist das Limit dessen, was noch verkraftbar ist an Eindrücken, Spannungen, Krankheiten und Druck längst erreicht oder überschritten. Wo finden wir noch die Kraft, die in die Zukunft weist, wenn wir durch das altbewährte Muster jeden Tag gespiegelt bekommen, dass es in eine Sackgasse führt und die Natur (eigentlich der Inbegriff des sich selbst regenerierenden Lebens) mit in den Abgrund reißt?
Meiner Ansicht nach ist deswegen der Hinweis auf eine (Re)Aktivierung des Intellektes, den uns Nikolaus von Kues vor 600 Jahren geben wollte, heute ein vergessener, noch immer gangbarer, vielleicht der einzige Weg, der in eine Zukunft eines menschenwürdigen Lebens führt. Das „Weidend-Nährende“ des Denkens kann nur erfahren werden, wenn ich dieses Denken und sein Erkennen übend schule, es wird mir nicht einfach gegeben wie ein Erlebnisurlaub. Im Betätigen des erkennenden Intellekts, im Philosophieren, ergreift der Mensch sich in seinem Verhältnis zu sich selbst, also zu seiner eigenen Geschichte und damit zu dem Wesenhaften, das den Zusammenhang des Ganzen erst geschaffen hat. Er ist das Nadelöhr der Selbstentwicklung. Das Erlebnis des schaffenden Logos, der nur im und durch den einzelnen Menschen sich verwirklichen kann, ist geistiges Leben, in dem in Ruhe und Festigkeit Ideen entstehen können, die unsere veräußerlichte Welt heute dringend braucht.
Diesen nährenden Logos gemeinsam zu pflegen, ist der Sinn des Philosophischen Seminars. Wer die Anstrengung nicht scheut, kann darin etwas finden, was nur auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen zu sein scheint, aber in Wirklichkeit so zukünftig ist, dass es nur bemerkt wird, wenn die Theorie zur Praxis wird.