Bericht: Exkursion nach Trier vom 26.–28. Juli 2024

von | 06. September 2024 | Allgemein

Gruppenfoto während der Exkursion in Trier, fotografiert von Richard Kugel

Wir freuen uns, in diesem Beitrag einen Bericht von Saskia Klukkert zur Exkursion nach Trier veröffentlichen zu können. Vielen Dank, Saskia Klukkert!

In der Stadt Trier konnten wir eindrucksvoll anschaulich und gedanklich erleben, wie sich geschichtliche Entwicklungen bis in den Nerv gegenwärtig andauernder, gesellschaftlich prägender Haltungen ziehen. Wir von der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE im Alumni-Jahrgang wurden zu zehnt von Lydia Fechner und Harald Schwaetzer zu einer reichen Wahrnehmungs- und Gedanken-Entdeckungsreise in Trier eingeladen.

Die Gegend von Trier zwischen Eifel und Hunsrück an der Mosel war für die Kelten ein offener, sehr schöner Naturraum, hierhin setzten sie ihr Zentralheiligtum des Gottes Lenus auf der Westseite der Moselschleife. Dort lebten auch die Treverer mit ihren Pferden, nach denen die Stadt benannt ist. „Dieser Stamm“, schreibt Caesar in seinem Gallischen Krieg (V,3), „vermag bei weitem am meisten von ganz Gallien, was die Reiterei betrifft“.

Um das ständig umkämpfte Westreich des spätrömischen Reiches sichern zu können, bauten die Römer in die klimatisch wohl für sie angenehme, schwül-warme Gegend einer großen Moselschleife und strategisch bewusst direkt gegenüber dem keltisch-treverischen Heiligtum ihre Stadt „Augusta Treverorum“ als eine übersichtliche Stadtanlage in Reißbrettform mit Ringanlage. Astrologisch anmutend und in die natürliche Umgebung eingebunden, lag das Forum zentral in der Kreuzung der Nord-Süd-Hauptachse (Porta Nigra) mit der Ost-West-Achse (Römerbrücke). Da diese spätantike erste Kaiserzeit von 0 bis 300 n. Chr. neben einem bereits sich konsolidierenden Christentum noch selbstverständlich in der Tradition alt-römischer Religiosität mit ihren Göttern lebte und darüber hinaus ebenso selbstverständlich in der spätantiken Vielfalt unterschiedlichster Kulte, gliederten sich, eine Dreiheit bildend, die Palast- und Verwaltungsanlagen der mittleren Kaiserzeit und der Tempelbezirk (auch mit Heiligtümern für Mithras, Serapis und viele andere Götter) als eigene Bereiche an; zusätzlich gab es in der Nähe des Forums übliche Thermenanlagen.

Zerstörung und Aneignung alter Tradition und Religiosität
Dieses noch stimmige Stadtbild erfuhr eine entscheidende, ja gar traumatisierende Veränderung durch kulturelle Brüche zwischen 300 und 400 n. Chr., die auch die ganze Folgezeit bis zum Ende des Weströmischen Reiches, über eine Linie von Diokletian und Konstantin bis zu Gratian und Theodosius I. entscheidend prägen sollten: die Ausgangslage war mit der alten Religion, der Durchsetzung der Tetrarchie, der perfektionierten Effizienz der Verwaltung, Infrastruktur und Bau-Technik gegeben; als Beispiel konnten enorme Mengen an Frischwasser über kilometerlange, exakt gebaute Leitungen für die entstehenden Thermen nach Treveris zugeführt werden. Nachdem in einer ersten Welle der Christenverfolgung die intellektuelle Schicht der Christen (u .a. Origenes) „unschädlich“ gemacht wurde, brachte eine zweite Welle unter Diokletian die Verfolgung aller Christen. Nach dem Misslingen erfolgte sehr bald der radikale Umschlag. Nur zehn Jahre später wurde durch die sogenannte Mailänder Erklärung eine Duldung aller Religionen, allerdings mit Privilegierung des Christentums erlangt.

Doch die Westgrenze ließ sich damit auf Dauer nicht sichern – zu groß und wiederkehrend waren die Aufstände der einheimischen (Ur-)Bevölkerung. Konsequent unternahm es das römische Kaisertum von Trier aus, im 4. Jahrhundert das Christentum als alleinige und vom Staat abhängige Religion durchzusetzen – qua Rechtsdekreten wie „cunctos populos“ (382). Innerhalb von wenigen Jahren waren alle seit tausend Jahren gepflegten, das Römertum begründenden Traditionen und Kultformen, also die gesamte alt-religiöse Anbindung in Abrede gestellt und zugunsten eines politisch funktionalisierten, und damit exklusiven Staatschristentums verboten. Trier verlor innerhalb von zwei bis drei Generationen seine Mitte, das Stadtbild spiegelte die durch einen juristischen Verwaltungsakt legitimierte Reichsmacht wider. Die alte Dreiheit wurde durch eine neue ersetzt: Es entstanden die mächtig repräsentative Kaiserhalle des Konstantin, riesige Kaiserthermen mit Circus und Amphitheater im Umfeld und als ein neues religiöses Machtzentrum eine monumentale Palast-Doppel-Kirchenanlage – und das Ganze jetzt aus der Stadtmitte hinausgerückt.

Totalitäre Willkür christlich verbrämter Macht
Gegen diesen offenen Schlag auf eine 1000-jährig gelebte Tradition (mos maiorum) innerhalb eines Prozesses hin zur hierarchischen Macht des Kaiserreiches durch neu-religiöse Legitimation regte sich auch Widerstand: Die Argumentation in Symmachus’ Relatio 3, die wir in gemeinsamer Lektüre heranzogen, machte sich symptomatisch fest am Streit um den Victoria-Altar, der seit mindestens 300 v. Chr. im römischen Senat stand und für Rom eine zentrale Funktion hatte: Ein sakraler Raum musste überall hergestellt werden, bevor Beratungen begannen, und nahezu alle Reichsbelange beschlossen werden konnten. Politische Sitzungen waren zugleich immer religiöse Zusammenkünfte mit der Grundhaltung: Alle Menschen stehen mit ihrem Schicksal unter dem Schutz der einzelnen, freien Gottheiten mit je eigener individueller Moral. „Nach meiner Weise will ich leben, weil ich frei bin“, lässt Symmachus die personifizierte Roma ausrufen. Diese seit jeher tragende und durch einzelne Senatoren hergestellte religiös-duldsame Anbindung an eine Vielfalt von religiösen Kulten ging durch politische und religiöse Gewalt unter – zugunsten einer zentralistischen christlichen Staatreligion. Der Kirchenvater Ambrosius verargumentierte dies in seiner stellvertretenden Antwort auf Symmachus. Die religiös stabilisierte Herrschaftshaltung mit einer den historischen Bewusstseinszug einer autonomen Individualisierung spürbar hemmenden Intention schrieb und schreibt sich in der Geschichte des Christentums fort. Institutionen werden ungefragt weiterhin im Wesentlichen aus gesetztem Recht und Norm, und Gemeinschaftsbildungen aus Gruppenzugehörigkeiten verstanden.

Doch ich kann selbst lernen, mehr Ich-Qualität zu entwickeln und diese selbst als ein Ich präsent in Erscheinung treten zu lassen, um damit auch ein Du als ein solches Ich wahrzunehmen. Dies entsteht nicht aus einem politischen Neugriff von außen, sondern aus Keimzellen zu einer neuen, sich christlich-inklusiv verstehenden Gemeinschaftsbildung.

Empfindungs- und Denkcharaktere verschiedener Baustile
Sensibel dazu angeleitet, konnten wir anhand der unterschiedlichen Baustile unsere Wahrnehmungsfähigkeit erproben. Im Areal der spätantiken Kaiserresidenz steht heute, zuerst durch sich noch gut einfügende romanische Erweiterungen des römischen Kerns, sowie spätere barocke Überfrachtungen, der mächtig-große Dom, sowie die direkt daneben liegende frühgotische, fast zarte Liebfrauenkirche mit Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert. Es war aufschlussreich, die auf dieser Anlage entstandenen Um- und Neubauten anhand persönlicher Raumerfahrungen zu erforschen, und durch einen unmittelbaren Vergleich der Räume ein differenzierteres Bewusstsein für die sich wandelnden Empfindungs- und Denkcharaktere der verschiedenen Zeiten zu gewinnen. Über unterschiedliche persönliche Vorlieben zum Wahrgenommen hinaus schimmerte immer wieder spürbar ein sich bildendes objektives Urteilsvermögen. So macht der Innenraum des Doms einen erdrückenden und waagerecht-ziehenden Eindruck in Richtung des barocken Apsis-Anbaus mit einem geheimnisvoll-entrückten golden Kreuz sowie dahinter befindlichen Rokkokotürmchen und dem darin beherbergtem „Heiligem Rock“, als eine Art Pendant zum heiligen Vließ Roms, was genau in dieser Zeit nach Konstantinopel gebracht wurde; insgesamt sehr geschickt und wirkungsvoll in der hierarchischen Raumgestaltung zeigt sich der Dom, aber eben auch kräfteraubend.

Dagegen ließ die darunter liegende romanische Krypta plötzlich wieder den Atem ganz anders, nämlich mehr in die Höhe und Weite fließen. Die unmittelbar danebenstehende Liebfrauenkirche, gebaut als ein Rotundbau ohne Krypta, ermöglichte eine harmonisch-frei fließende seelische Innenraumerfahrung, als ein Aufgenommensein in die Gemeinschaft der Apostel (Bilder an 12 Säulen), bei gleichzeitiger Förderung des Zur-Ruhe-Kommens in meditativer Vertiefung. Die lichtdurchflutete, frühgotische Kirche mit freitragenden Säulen und filigranen Kreuzgewölben kann als eine Art juwelhaft-lebendiger Tempelbau empfunden werden. Dadurch ist auch ihre in der Forschung vermutete Beziehung zur Gralsburg in der Sage des Parzival zu verstehen. Ein dazu passendes Erleben stellt sich im dazugehörigen Kreuzgang ein, der heute leider eine Grabesstätte statt eines architektonisch klar intendierten Paradiesesgärtleins umfasst. Direkt daneben und wie therapeutisch durch die Liebfrauenkirche aufgefangen, ist kontrastreich der Dom wie ein architektonisch-verwirrendes Konglomerat zu sehen, welches von der langen Geschichte zeugt.

Den schönen Abschluss unserer erfahrungsreichen, lebendigen Exkursion ergänzte das Hören von Auszügen aus einer Predigt des Cusanus, die er 1434 aus der früher zur Kirche umbauten Porta Nigra vor dem Bischof und vornehmen Geistlichen mit ermahnenden, intellektuell hoch anspruchsvollen Worten hielt. Damit ertönt am Anfang der Neuzeit unüberhörbar der Impuls einer freiheitlichen, ich-geführten Menschlichkeit im Bild des Sich-Stellens und Stehens und in dem einer Waage: Jeder ist ein einzigartiger Mensch und folge frei seiner individuellen Berufung, bilde die Beziehung zur Wahrheit und trage den anderen schicksalsmäßig ausgleichend darin mit. Ein lebendiges Erkennen, das zu einem erkennenden Leben zusammengeführt den wirkenden Schwerpunkt aus dem Ich menschheitlich aufleuchten lässt, wird damit als Ideal und Ziel gegeben.