Vom 14. bis 16. Juni 2024 trafen sich Cusanus- und Cassirer-Forschende in einem Workshop zu Cassirers philosophiegeschichtlicher Darstellung der Renaissance in seinem Buch „Individuum und Kosmos“ in Freiberg. Nach dem Motto Cassirer neu lesen wurden Kapitel aus dem Buch auszugsweise gemeinsam gelesen und engagiert diskutiert. Der bedeutende Kulturphilosoph Cassirer beschreibt das Cusanische Werk hier als Brennpunkt der ganzen Renaissance und lässt das moderne Denken mit Cusanus im 15. Jahrhundert beginnen. Epochemachend ist für Cassirer die Cusanische Neuformulierung des Wissensbegriffs, der den Gegensatz von Endlich-Bedingtem und Unendlich-Absoluten nicht mehr dogmatisch, sondern als Bedingung der menschlichen Erkenntnismöglichkeit versteht und damit schließlich in der neuartigen, erkenntnistheoretischen Zuwendung an das Sinnlich-Unmittelbare das Feld für die entstehenden empirischen Wissenschaften eröffnet.
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der „Philosophie der symbolischen Formen“ (der erste Band erschien 1923) entstand die Idee zum Workshop aus einem Anstoß von PD Dr. Kirstin Zeyer (Universität Oldenburg), Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar e.V., die derzeit zur Symbolphilosophie forscht. Im Speziellen ging es um die Frage nach dem Einfluss, den das Cusanische Symboldenken auf Cassirer ausgeübt hat. Das Renaissance-Buch „Individuum und Kosmos“ (erschienen 1927) steht in unmittelbarer Nähe zum Entstehungsprozess von Cassirers symboltheoretischem Hauptwerk. Beide Bücher entstanden in Cassirers Hamburger Zeit, die durch einen fundierten kultur- und kunsthistorischen Austausch in dem Kreis um Aby Warburg geprägt war. So verfolgte der Lektüre-Slot von Kirstin Zeyer und Nadja Görz (Philosophisches Seminar e.V.) die Frage, wie Cassirer den Begriff des Symbols bei Cusanus herausstellt, und welche Parallelen sich in der Konzeption seines eigenen Symboldenkens aufweisen lassen. Weitere Lektüre-Schwerpunkte waren Cusanus und die Mathematik, der in der Cusanus Nachfolge stehende Philosoph der 16. Jahrhunderts Carolus Bovillus, der Averroismus und die Astrologie. Die Lektüren wurden jeweils durch Impulsreferate eingeleitet; es sprachen Prof. Dr. Gregor Nickel (Mathematik, Universität Siegen), Jun.-Prof. Dr. Mario Meliadò (Philosophie, Universität Siegen), Prof. Dr. Martina Roesner (Philosophie, Theologische Hochschule Chur) und Dr. Harald Schwaetzer (Philosophisches Seminar e.V.).
Den Eröffnungsbeitrag am Freitag hielt Prof. em. Dr. Wolfgang Christian Schneider (Senior Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim) über „Cusanus in Italien“, so der Titel des zweiten Kapitels aus „Individuum und Kosmos“. Schneider kommentierte Cassirers Thesen zum Einfluss des Cusanischen Denkens auf die italienische Renaissance Bewegung, vor allem die des Florentiner Kreises um Marsilio Ficino. Am Abend folgte eine öffentliche Lesung mit Dr. Tobias Roth, dem mehrfach ausgezeichneten Übersetzer aus dem Italienischen, der dem Publikum aus seinem Buch „Florenz“ Lyrik, Karnevalslieder und Tagebuchaufzeichnungen der Zeit in äußerst lebendiger und humorvoller Weise vortrug. Die Denkgeschichte der Renaissance wurde damit um einen künstlerisch-literarischen Einblick in eine bewegte, aufstrebende Epoche vervollständigt, die so intensiv nach einem Ausgleich des Spannungsverhältnisses von Geist und Sinnlichkeit suchte.
Der fruchtbare und an Erkenntnis reiche Austausch soll in Form von Beiträgen in der Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte publiziert werden.
– Nadja Görz –