Das Kleine groß sein lassen

von | 08. Dezember 2024 | Denklichter

Adalbert Stifter: Mondlandschaft mit bewölktem Himmel (ca. 1850)

„Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm, der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen, ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor, und sind die Ergebnisse einseitiger Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau empor schwellen und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge empor treibt und auf den Flächen der Berge hinab gleiten läßt.“

Adalbert Stifter, Vorrede „Bunte Steine“ (1853)

Das obige Zitat des Dichter Adalbert Stifter mit der eigentümlichen Gewichtung „großer“ und „kleiner“ Ereignisse liest sich wahrscheinlich für die meisten Zeitgenossen heute wie aus einer fremden, längst vergangenen Welt. Schon damals antwortet Stifter auf den Vorwurf der langweiligen Biederkeit seiner Schriften, in deren Mittelpunkt häufig die ausgedehnte Beschreibung scheinbar alltäglicher Lebensvollzüge und Naturvorgänge stehen. Auch wenn dies nur der alleroberflächlichste Blick ist, den man auf Stifter werfen kann und der sich bei genauer Lektüre nirgendwo halten lässt, so scheint er selbst ein Anliegen damit zu verbinden, die Bewertung des Außergewöhnlichen und Sensationellen als das Interessante und Wesentliche, das es dichterisch zu erzählen gilt, zu entkräften.

Wenn „das Wehen der Luft“ oder „das Schimmern der Gesteine“ als größer wahrgenommen wird als Erdbeben oder Unwetter, welche Beobachtung liegt dem zugrunde? Leben wir nicht in einer Zeit, in der der „Event“, das Katastrophale (sei es im Klima oder in der politischen Großlage), das Laute, Exzessive und Charismatische, ja sogar das Rüpelhafte und Extreme den Alltag der medialen Kultur und damit unser Leben bestimmen? Wie soll das Schimmern der Gesteine da standhalten? Wer interessiert sich überhaupt dafür, wie ein Feldspat schimmert, wie ein nasser Sandstein matt glänzt oder der Kiesel am Flussufer sich in der Sonne spiegelt? Was soll daran „groß“ sein?

Stifter verweist im weiteren Verlauf seiner Rede darauf, wie nur das gründliche und ausdauernde und sinnlich reine Studium der überschaubaren Einzelbeobachtung auf das allgemeine Göttliche innerhalb der Welt verweist, das wir in seiner Gesamtheit nicht erfassen können, aber im „Kleinen“ immer vor Augen haben. Wenn wir es verstehen, diese Art einer Naturwissenschaft oder auch des Lebensstudiums zu pflegen, dann dringen wir ein in das Wunder, das sich ausbreitet vor unseren Sinnen.

Der Dichter überträgt dieses Staunen und Wundern im weiteren der Vorrede wirklich auch auf den menschlichen Lebenslauf:

„Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört, und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge, Erdbeben.“

Versuchen wir probeweise, diese Haltung auf die Geschehnisse der Gegenwart, oder besser: auf die Erwartung der meisten Menschen an die zukunftstiftenden Kräfte der Welt zu übertragen, so stellen sie eigentlich alle heute geltenden Werte auf den Kopf, die den Reichsten und Mächtigsten Größe zuschreiben und ihnen die Eigenschaften von Rettern, Führern und genialen Ideengebern zutrauen. Stifter sähe hier das Gegenteil am Werk: ein sich Ausleben von Einseitigkeiten, von aus dem göttlichen Zusammenhang gefallenen Extremen, die sich anstelle einer ausgewogenen und gebildeten Menschlichkeit und der Anfänglichkeit einer Ich-geführten Kultur setzen.

Dieses kurze Denklicht möchte mit diesen wenigen Anregungen an den heute wenig gelesenen Dichter Adalbert Stifter erinnern, der ein Meister war der Aufmerksamkeit für das verborgene „Große“, das im Leben jedes Menschen und der Natur Ereignis werden will.