Wolfgang Gutberlet und die Mitarbeiter des Philosophische Seminars haben zusammen zwei „Werdebücher“ herausgegeben: „Denkwanderungen zur Selbsterkenntnis“ und „Ich und Wir: Polarität und Steigerung“. In loser Folge werden wir einzelne Motive, jeweils mit einer Übungsanregung, aus diesen Büchern vorstellen.
II. Gibt es eine wertfreie Wissenschaft?
Wir pochen gerne auf die Wertfreiheit von wissenschaftlichen Aussagen. Denn dann können sich keine persönlichen Vorlieben in unsere Urteile einmischen – glauben wir. Wissenschaft, so liesse sich versuchsweise behaupten, ist streng objektiv und wertfrei. Wenn wir uns mittels dieser Wertfreiheit von den unbewussten Urteilen (Vorstellungsfragmenten) befreien könnten, wäre es vielleicht auch möglich, etwas Allgemeines über das denkende Ich auszusagen.
Wir wollen uns an einem Beispiel klarmachen, wie es mit dieser scheinbaren Wertfreiheit grundsätzlich bestellt ist. Dabei schauen wir nicht auf die Inhalte, sondern auf den Prozess. Es geht nicht in erster Linie darum, Vorstellungen inhaltlich zu „entlarven“ in ihrer nur scheinbaren Objektivität, die in Wirklichkeit doch normative, ethische Aussagen impliziert. Sondern wir beobachten die Form und die Bewusstseinstätigkeit, aus der heraus derartige Aussagen gewonnen werden.
Unser Beispiel entnehmen wir einem Philosophen des 20. Jahrhunderts: HEINRICH BARTH (1890-1965). Anhand der Pendelgesetze macht Barth deutlich, dass selbst die wissenschaftliche Aussage über ein Naturgesetz einer bestimmen Einstellung und Haltung des Wissenschaftlers bedarf, für die dieser im Grunde genommen verantwortlich ist: Stellen Sie sich vor, Sie beobachten ein Pendel, etwa einer Kuckucksuhr oder auch einfach ein frei schwingendes Pendel. Wenn Sie es in seinem Tiefpunkt sehen, dann erwarten Sie gemäss der Pendelgesetze, dass es nach oben schwingt. Sie können nun die Gesetzmässigkeit, mit der ein frei schwingendes Pendel schwingt, erfassen – Galilei hat uns diese Arbeit abgenommen, seitdem können wir es bei ihm nachlesen.
Ist es aber sicher, dass das Pendel in seinem Schwung gesetzmässig nach oben pendelt ? Barth stellt das insofern in Frage, als er schlicht feststellt, dass das Pendel nur dann wieder nach oben schwingt, wenn wir es nicht anhalten, wenn wir es also in Ruhe pendeln lassen und die Haltung eines unbeteiligten Beobachters einnehmen. Statt es nur zu beobachten, könnten wir das Pendel aber auch anhalten oder wir könnten es mit der Hand zurückwerfen. Weil der Beobachter mehrere Möglichkeiten hat, sich dem beobachteten Phänomen gegenüber zu verhalten, ist es eine Entscheidung, unbeteiligt zu bleiben. Es ist keineswegs ein naturgegebener, unabänderlicher Vorgang; sondern wir entscheiden uns, die Wirklichkeit in einer bestimmten Weise sich gestalten zu lassen. Wir greifen an dieser Stelle eben nicht ein, so dass das Pendel ungestört pendeln kann. Worauf es uns in diesem Beispiel ankommt, ist eine darin zum Ausdruck kommende Einsicht Barths: Wenn das Pendel in seinem Tiefpunkt ist, dann sehe ich es nur dann wieder aufsteigen, wenn der Prozess nicht unterbrochen wird. Wenn ich mir vornehme, das Pendel in seinem Tiefpunkt anzuhalten, dann wird es nicht wieder nach oben ausschlagen. Dieser einfache Sachverhalt hat nun aber gewichtige Konsequenzen.
Interessiert mich die Beantwortung einer naturwissenschaftlichen Frage, muss ich mich entscheiden, nicht einzugreifen. Naturgesetzlichkeit zu erfahren, bedeutet, aktiv eine Haltung einzunehmen, in der ich zulasse, dass das Gesetz sich zeigen kann. Dabei verlassen wir heute
allerdings häufig die Position, das Gesetz „nur erfahren“ zu wollen. In vielen Bereichen der Wissenschaft greifen wir mittlerweile so grundlegend in die Natur ein, dass wir sie vollständig verändern, wie beispielsweise in der Gentechnik.
Das Argument lautet zunächst einfach: Die sogenannte Objektivität und Wertefreiheit ist eine Haltung, die ich unbewusst oder bewusst schon eingenommen habe. Sie beruht also ihrerseits auf einer moralisch-normativen Entscheidung, denn ich könnte mich auch anders verhalten. Daraus folgt, dass Wissenschaft von einer moralischen Entscheidung abhängt, und nicht umgekehrt. Jedes vermeintlich wertfreie Urteil beruht immer schon auf einer solchen moralischen Entscheidung und ist insofern normativ. Diese Einsicht ist für die Gewinnung eines Menschenbildes offenbar nicht unwichtig. Sie lehrt uns, dass wir auf unserem Weg zum „Ich bin“ Moralität nicht nur nicht ausschliessen dürfen, sondern sogar bewusst einschliessen müssen. Das Gewinnen von Einsichten auf dem Wege ist geradezu davon abhängig, wie ich mich selbst moralisch im Erkennen verhalte. Erkennen ist insofern ein Handeln, und zwar ein ethisches Handeln. Unsere Erkenntnis will verantwortet sein und sie ruft uns auf zu ihrer aktiven Gestaltung.
Übung:
Nehmen Sie sich vor dem Schlafengehen ein paar Minuten Ruhe und fragen Sie sich, welche Gedanken Sie an diesem Tag gedacht haben, die Sie bei genauerer Betrachtung nicht verantworten können. Denken Sie die Gedanken erneut auf eine Art und Weise, die Ihnen verantwortbar erscheint.
Aus: WerdeBuch 1, S. 50 ff (überarbeitet).