Wir freuen uns, an dieser Stelle Yaras Bericht vom Seminar Anna Tumarkins philosophische Psychologie bringen zu können. Vielen Dank, Yara!
[…] so entsteht aus dem Zusammenspiel der Idee [von] der Einheit der Persönlichkeit mit dem Material der Einfühlung, was wir Verstehen des Seelenlebens nennen.
Tumarkin, Anna: Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Psychologie. Leipzig 1923.
Die „psychologische Frage“ bewegte Anna Tumarkin (1875–1951), erste Professorin für Philosophie mit den Schwerpunkten Ästhetik und Psychologie an der Universität Bern, viele Jahre ihres Lebens. Und sie bewegte uns – Studierende unterschiedlicher Fachdisziplinen (vornehmlich der Philosophie und Psychologie), die Anfang Februar für ein zweitägiges Seminar zusammenkamen, um einen Einblick in Tumarkins Verständnis von der Psychologie zu gewinnen. Bevor wir uns jedoch in die Lektüre stürzen konnten, wurden wir zunächst von Prof. Dr. Harald Schwaetzer zu einem Ausflug in die komplexe Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts eingeladen. Äußerst interessant dargelegt wurden Hintergründe und Auswüchse des Methodenstreits um und vor 1900. Neben dem Bruch mit der Vorherrschaft metaphysischen Denkens entwickelte sich eine verstärkte Popularisierung materialistischer Ansätze, die in eine Erneuerung der Wissenschaftstheorien mündete. Besonders bemerkenswert: die bildliche Darstellung all jener Philosoph:innen, ihrer Beziehungen, Beeinflussungen und Verflechtungen in jener Zeit, deren weite Verzweigungen bis an die äußersten Grenzen der Tafel bzw. unserer Notizzettel reichten.
Anna Tumarkin war mit der Krise der modernen Naturwissenschaft um die Jahrhundertwende selbstverständlich bestens vertraut, und auch wir konnten uns nun, durch den Input gewappnet, den Ausschnitten ihrer „Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Psychologie“ widmen. Recht schnell entsponnen sich rege Gedankenaustausche, die an Tumarkins Ideen anknüpften. Wir diskutierten u.a. die „Idee von der Einheit der Persönlichkeit“, über den Zusammenhang von Individualität und Gemeinsamkeit und wie man „Sinnzusammenhang als Zweck“ verstehen kann. Für uns alle wurde deutlich, wie fruchtbar die Verbindung zwischen psychologischen und philosophischen Blickwinkeln sein kann. Anna Tumarkin führte uns durch ihren Text an die Idee einer Psychologie heran, die den Menschen als ganzes, sinnstrebendes Wesen versteht, das sich selbst aus seinem Zweckzusammenhang zu entfalten versucht. Implikationen, die sich daraus für die zeitgenössische Psychologie ergeben, regten uns zu weiteren Gedanken an.
Wenn auch die Diskussion rund um die Lektüre teilweise „philosophische Schlagseite“ hatte, kam die Psychologie insbesondere am zweiten Seminartag nicht zu kurz. Prof. Dr. Ulrich Weger von der Universität Witten/Herdecke führte uns in die Phänomenologie bzw. Introspektionsforschung ein. Sich mit Gedanken auseinandersetzen, statt sie formal zu kategorisieren, lautete die Prämisse, der wir mithilfe eines Gedankenexperiments auf den Grund gingen. „Ich existiere nicht“ war der Satz, den wir probeweise zu denken versuchten, um uns anschließend über diese Erfahrung, aus phänomenologischer Perspektive, auszutauschen.
Inspiriert und voller neuer Denkanstöße – so habe ich das Seminar verlassen, in Erwartung eines zweiten Teils, der erneut dazu einlädt, die Schnittstellen zwischen Philosophie und Psychologie weiter auszuloten (und natürlich: mit so vielen anderen, interessierten Teilnehmenden ins Gespräch oder auch: in den gedanklichen Dialog zu kommen).