Den Blick für die Natur verlebendigen: Die Malerei Paul Cézannes als innerer Entwicklungsweg

von | 02. Juni 2020 | Denklichter

„Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sie ist in der Tiefe.“
Paul Cézanne

Der malende Philosoph Cézanne hat den modernen Blick in eine lebendige Natur, zumindest in der Geschichte der Kunst, maßgeblich geprägt. In den Jahrhunderten zuvor hatte man Natur und Landschaft aus der Tradition heraus als eine in sich geschlossene, kosmisch eingebundene Einheit begriffen, die es in ihrer Erhabenheit, göttlichen Schönheit, vielleicht Zerbrechlichkeit und auch mythischen Verbundenheit mit dem Menschen nachzuahmen galt. Ab dem 19. Jahrhundert sah man sich im Einklang mit der naturwissenschaftlichen und technischen Vereinnahmung der Natur und versuchte sich folgerichtig an einem abbildenden Realismus. Cézanne tritt zusammen mit anderen Philosophen und Dichtern seiner Zeit aus jener alten Gewissheit und der neuen, objektivierenden Faktizität aus. Er möchte tiefer dringen; dorthin, wo der empfindende, schöpferische Mensch einer empfindenden, schöpferischen Natur gegenübertritt und eine nicht gegebene, sondern bewusst herbeigeführte, in philosophischer Klarheit erstellte Beziehung entsteht.

Der Maler erschafft dazu eine nüchterne, transparente, wie er selbst sagt, parallele Schöpfung auf der Leinwand, die aber nur im realen Angesicht des „motif“ entstehen kann – ohne bloßes Abbild zu sein. Natur entsteht, wie der Maler selbst, im bewussten künstlerischen Prozess neu. Nichts, was auf der Leinwand an Elementen zu finden ist, findet sich so „draußen“ einfach wieder. Aber alles, was auf der Leinwand ist, entsteht aus dem möglichst vorstellungs- und begriffsfreien Schauen, ist aus einem totalen, aber reinen Seh-Eindruck der Natur begriffen und gesetzt. Es geht Cézanne also um erkennendes Malen, nicht um Nachahmen. Wer Cézannes Bilder als Ausdruck subjektiver Gefühle oder nur persönlicher Seh-Perspektiven begreift, hat ihn und seine Kunst missverstanden.

Heute stehen wir vor einer Natur, deren Oberfläche längst nicht mehr die geschlossene Harmonie zeigt, die in früheren Zeiten selbstverständlich war. Jeder tiefere, empfindende Blick fördert das dürstende Leid zutage, das uns aus dem Antlitz der Natur entgegenkommt. Von Cézanne können wir lernen, dass es ein Entwicklungsweg ist, diesen Blick in eine schöpferische, die Natur in ihrem Werden unterstützende Imagination zu verwandeln. Wenn wir versuchen, die Perspektive seiner Bilder einzunehmen, ist dieser Versuch selbst ein Weg zu einer reinen Wahrnehmung im sehenden und heilenden Umgang mit der Natur.