Wollen wir wachen oder schlafen?

von | 12. März 2021 | Denklichter

„Es ist am sichersten und vollkommen, dass der Geist sich durch immer mit Bewusstsein versehene und wache Hut daran gewöhnt, seine Gedanken zu unterscheiden und bei der ersten Regung der Seele entweder zu billigen oder zu missbilligen, was sie denkt, damit sie entweder die guten Gedanken nährt oder sofort die schlechten austilgt. Hier ist nämlich die Quelle des Guten und der Ursprung des Sündigens. Einer jeden noch ungeborenen Verfehlung prinzipieller Anfang liegt im Gedanken, der eine jede einzelne Tat wie auf eine Tafel des Herzens malt, bevor sie geschieht. Denn sei jene Tun oder Reden: damit sie in die Erscheinung gebracht werde, wird vorher geordnet und durch Erwägung der Gedanken entschieden, was geschehen wird.“ (Pelagius: Brief an Demetrias, Freiburg im Br. 2015, S. 156/157: Übers. v. Harald Schwaetzer).

Pelagius (ca. 350/60-420 n. Chr.), geboren vermutlich in der römischen Provinz Britannien, war einer der wichtigsten Gegenspieler von Augustinus in der Auffassung des Menschen und damit insbesondere im Verständnis der sogenannten Erbsündenlehre. Für ihn war der Mensch von Natur aus gut, und es war aus seiner Sicht dem freien Willen des Menschen anheim gegeben, ob er sich für oder gegen Gott und das Gute entscheidet. Für Augustinus ist das Gegenteil der Fall: Der Mensch ist grundsätzlich verderbt und angewiesen auf die Gnade Gottes.

Das oben angeführte Zitat ist ein beeindruckendes Beispiel für die Lauterkeit von Pelagius‘ Denken. Man könnte es aus heutiger Sicht auch als ein Beispiel früher Existenzphilosophie lesen. Bereits bei der Entstehung der Gedanken – oder besser ihrem Auftreten – im menschlichen Bewusstsein ist der Mensch keiner unbewussten Kausalität oder einem blinden Schicksal unterworfen („mein Gehirn denkt“, „in meinen Vorstellungen bin ich Opfer meiner frühkindlichen Prägungen“ usw.). Es liegt allein am Grad der Wachheit, die der Mensch aufzubringen vermag, ob er die Bildung von Vorstellungen aktiv im Entstehen begleiten und vor sich hinstellen kann und daraufhin entscheiden – oder ob er den Vorgang verschläft.

Alle Manipulationen und Beeinflussungen, denen wir ausgesetzt sind, rechnen damit, dass wir die Tendenz haben, gerade diesen von Pelagius so genau beschriebenen Vorgang zu verschlafen. Wachen wir aber auf, z.B. durch philosophische Betätigung, sind wir in der Lage, die sonst unbewusst verlaufende, aber doch sich zutragende, jeweils existenzielle Entscheidung bewusst zu fällen.

Das Interessanteste an dieser Textpassage ist jedoch die Aussage, dass der „Gedanke“… „eine jede einzelne Tat wie auf eine Tafel des Herzens malt, bevor sie geschieht.“ Das Herz wird zum empfänglichen, abwägenden Organ des Ich in der Seele, zum Mittelpunkt der Entscheidung und zur Waage der Gerechtigkeit, auf der alle zu Handlungen führenden Gedanken in Freiheit beurteilt werden. Der Mensch übernimmt Verantwortung für sein Tun aus der Mitte seines Wesens heraus. Er entscheidet, ob es gut und förderlich werde oder böse und damit aus dem Zusammenhang herausfallend.

Man kann sich fragen, was geschehen wäre, wenn die Entwicklung des christlichen Abendlandes entschiedener dieser Lehre und nicht einer – wenn auch abgeschwächten – Ansicht von Augustinus gefolgt wäre.