Zu den Räumen des neuen Deutschen Romantik-Museums neben dem Goethe-Haus in Frankfurt gelangt man über eine ins Blaue führende „Himmelstreppe“. Steigt man im hinteren Treppenhaus wieder herab, so erlebt man den Himmel auf Erden: Das von einem dem Lauf der Sonne automatisch folgenden Spiegel (Heliostat) in einer Glaskuppel im Dach eingefangene Licht passiert ein großes Wasserprisma und wird danach auf der rechten Seite à la Newton durch einen Spalt gelenkt und in die kräftigen Farben des Regenbogens aufgefächert: Rot, Grün und Blauviolett. Auf der linken verwandelt ein Schatten werfender Steg das Dunkel hinter dem Prisma in ein lichtes Nachtbild aus leuchtendem Türkis, Purpur und Zitronengelb. Beide Spektren erscheinen drei Stockwerke tiefer nebeneinander auf einer Tafel – wenn die Sonne sich am Himmel zeigt: „Die Sonne muss Zeuge sein und Erzeugerin“ (Olaf Müller, FAZ 23.10.2021). Diese dauerhafte Lichtinstallation ist ein Werk des Künstlers Ingo Nussbaumer, der seit langem mit den Spektren von Isaac Newton und Johann Wolfgang Goethe arbeitet.
Das von Newton 1666 entdeckte Spektrum ist allgemein bekannt und bildet die Grundlage der modernen Optik, die die Farben durch Messen ihrer Wellenlänge quantifiziert. Die durch Auffächerung des einheitlich erscheinenden weißen Lichtes mittels Brechung erscheinenden Farben wirken gegenüber dem sogenannten Goethe-Spektrum fast materiell. Letzteres entsteht durch Zusammenrücken der im Blick durch das Prisma an der Grenze zwischen Licht und Finsternis sichtbaren Farbränder. Dort, wo sich diese überlappen, erscheint das Purpur, von Goethe auch Pfirsichblüt genannt. Es ist die exakte Gegenfarbe zum Grün, das im Newton-Spektrum die Mitte bildet. Wie überhaupt durch die Simultanität der beiden Spektren jeweils Farbe und Gegenfarbe, physische Farbe und „subjektive“ Farbe einander objektiv gegenüber stehen – wobei sich keine der Newtonschen Farben im Goethe-Spektrum findet, was entsprechend auch umgekehrt gilt. Dies hat der Künstler noch einmal durch einen doppelten Farbkreis an der gegenüberliegenden Wand verdeutlicht: Die Goethe-Farben bilden den inneren Kreis, die Newtonschen Gegenfarben den äußeren.
So kräftig die Farben des Goethe-Spektrums auch erscheinen, so wirken sie doch weniger greifbar, eher schwebend – nicht ganz von dieser Welt. Sie erscheinen wie Spiegelungen aus einem Bereich, der ansonsten den äußeren Sinnen nicht zugänglich ist, dem Menschen aber von innen her mittels des empfindenden Denkens erfahrbar werden kann. Eigenartiger und zugleich bezeichnender Weise liegt das Purpur/Pfirsichblüt als Farbe der menschlichen Haut, diesem Grenzorgan zwischen innen und außen zugrunde – dem Inkarnat.
Bis zum 6. November ist im Rahmen der Ausstellung ‚Zeichnen im Zeitalter Goethes‘ des Romantik-Museums auch Goethes kleine aquarellierte Federzeichnung des Farbenkreises zur Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens zu sehen.