Newsletter Januar 2023

von | 17. Januar 2023 | Newsletter

Abbildung: Mosel-Neckar
Von der Mosel … an den Neckar.

Liebe Leserin, lieber Leser,

nachdem wir im Sommer vorigen Jahres von der Gründung eines eigenen Vereins für das PHILOSOPHISCHE SEMINAR berichtet haben, lesen Sie nun von seinem Umzug an den Neckar und somit in eine nicht weniger geschichtsträchtige Gegend. Wobei das Äußere der neuen Arbeitsstätte mit dieser Gegend wenig gemein hat – eine interessante Herausforderung!

In ihrem Denklicht macht Lydia Fechner mit Hans Memling und Heinrich Barth deutlich, wie der Blick auf einen Menschen selbst zum Kunstwerk werden kann. Zudem berichten wir über ein an der Universität Marburg erfolgreich erprobtes neues Veranstaltungsformat, das vielleicht zur Nachfolge anregt. Dazu gibt es manche Ankündigungen und Hinweise auf Publikationen, wobei uns der Band zur Akademischen Freiheit, die es zu erhalten gilt, besonders am Herzen liegt. An ihm haben eine Reihe von Menschen aus dem PHILOSOPHISCHEN SEMINAR und seinem Umkreis mitgewirkt.

Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen, nun in Freiberg am Neckar!

Es grüßt Sie herzlich
Stephan Stockmar
im Namen der Mitarbeitenden des Philosophischen Seminars
 

Von der Mosel an den Neckar…

…von der Heimat des Nikolaus von Kues in die von Schiller, Schelling, Hölderlin und Hegel; aus dem Kloster in ein chinesisches Haus: Der Umzug des PHILOSOPHISCHEN SEMINARS nach Freiberg am Neckar steht für Kontinuität und Neubeginn zugleich. Die Arbeitsanliegen und -prinzipien bleiben die selben, auch die Sprache ändert sich nicht… Doch ermöglichen die großzügigen lichten Räume am neuen Standort, Seminare und Kolloquien vermehrt in eigenen Räumen abzuhalten, was für Forschung, Lehre und Weiterbildung gleichermaßen schöne Perspektiven bietet, zumal viele Teilnehmende aus dem Stuttgarter Raum stammen.

Der Umzug mit Klavier und Cembalo Anfang Januar verlief reibungslos; so konnten dort gleich mehrere Arbeitstreffen in schöner, konzentrierter Atmosphäre stattfinden. Harald Schwaetzer: „Es ist wohltuend, in den hellen und hohen Räumen miteinander zu denken.“ – Im Sommer wird noch die umfangreiche Bibliothek des PHILOSOPHISCHEN SEMINARS dort aufgestellt werden.

Freiberg am Neckar ist von Stuttgart aus mit der S-Bahn gut zu erreichen. In der Umgebung gibt es erschwingliche Unterkünfte. Die Verpflegung während der Seminare findet im Haus selbst statt, zubereitet durch den Vermieter persönlich. Durch bewegliche Wände können die Räume in der ersten Etage den jeweiligen Bedürfnissen angepasst werden. 

Durch diese neue Umgebung angeregt, gibt es schon erste Überlegungen zu neuen Veranstaltungsformaten, auch mit dem Ziel, das Kulturleben vor Ort und im Stuttgarter Raum zu bereichern. Wir werden darüber berichten!

Abbildung: Haus Freiberg außen+innen

Veranstaltungen

> Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE: 21. und 22. Januar 2023 in Stuttgart-Birkach: Jahreskurs, keine Anmeldung mehr möglich. Informationen zur Weiterbildung hier.

> Begleitstudium Philosophie: Denkwürdigkeit #2 – Wahrheit und Erkenntnis: Erkundungen unseres Denkens und Wahrnehmens am 27.–29. Januar 2023 in Freiberg. Wir erkunden unseren Zugang zur Wirklichkeit, der so alltäglich ist, dass wir ihn kaum bewusst bemerken. Und: (Wie) Können wir heute noch von „Wahrheit“ sprechen? Für Kurzentschlossene ist eine Teilnahme noch möglich! Weitere Informationen hier.

> „De visione dei“: Studientag in Berlin am 28. Januar 2023, 10-17 Uhr. Weitere Informationen hier.

> Die Aktualität des Johannes-Evangeliums: Weiterbildungsworkshop am 3. und 4. Februar 2023 in Freiberg am Neckar. Weitere Informationen hier.
 

Denklicht: Blick auf einen Menschen

„Wer ist nun aber am ehesten befähigt, den in die Erscheinung tretenden Menschen – den Menschen, wie er uns vor Augen tritt – in dem, was er „ist“, zu erkennen? Offenbar derjenige, der ihn am besten zu sehen vermag. Dies ist aber derjenige, der ihn am besten und tiefsten aesthetisch zu erfahren in der Lage ist. Wahrscheinlich ist es der Vertreter der bildenden Kunst, z.B. der Porträtist. In der aesthetischen Sicht des begegnenden Menschen haben wir sein reines, ungebrochenes In-die-Erscheinung-Treten zu erwarten. Sie ist „reine“ Sicht, sofern sie nicht durch irgend einen Begriff, ein Vor-Urteil, eine Erwartung in Beschlag genommen, nicht durch irgend welche vorgreifende, dazwischentretende Vorstellung getrübt, gebrochen, verfälscht wird. Wer z.B. jemanden mit dem Gedanken ansieht, daß er ihm in bestimmter Hinsicht nützen kann, sieht „ihn“ nicht; er tritt ihm nicht rein in die Erscheinung.“ – aus: Heinrich Barth, Grundriss einer Philosophie der Existenz, S. 88.

Abbildung: Hans Memling, Porträt der Barbara Vlaendenbergh, 1480, Museum der schönen Künste in Brüssel
Hans Memling: Porträt der Barbara Vlaendenbergh, 1480, Museum der schönen Künste in Brüssel.

Das Porträt der Barbara Vlaendenbergh von Hans Memling (1433/40–1494) hängt im Königlichen Museum der Schönen Künste in Brüssel. Es ist eine Tiefwinterbegegnung Anfang Januar, die mir dieses Bild offenbart. Schon öfter habe ich mit Studierenden den Text von Heinrich Barth bearbeitet, aus dem das obenstehende Zitat stammt. Und hier, in diesen kühlen Museumsräumen, war wieder das unmittelbare Erleben der Wahrheit dieser Barthschen Einsicht, dass der gute Porträtist das Wesen eines Menschen in die Erscheinung treten lassen kann.

Die junge Frau, die vor einem offenen Fenster, das eine Landschaft freigibt, im Halbprofil gemalt wurde, schaut den Betrachter nicht an. Sie hat die Hände zum Gebet gefaltet und ist konzentriert nach innen gerichtet und in Kontemplation versunken. Das Frappierende hierbei ist, dass sie – trotz unprätentiöser Mimik und Gestik – auf so unmittelbare Weise präsent erscheint, dass ihr Wesen, aber auch ihr Charakter in diesem Moment wie aus der Zweidimensionalität heraustritt: nicht äußerlich gemeint – es bleibt selbstverständlich ein Bild – aber als qualitative Erfahrung eines „Hier und Jetzt“. Dadurch geschieht es, dass uns der Gesichtsausdruck der jungen Frau, trotz zeitbedingter Kleidung und Haartracht, auf eine lebendige Weise wie, ja als eine Zeitgenossin entgegentritt. Sie wirkt  somit in all ihrer Innerlichkeit selbstbewusst und fokussiert, von einem deutlichen, sehr persönlichen Willen durchleuchtet. Der Maler erreicht dies durch eine atemberaubende Genauigkeit, die besonders im Inkarnat ihrer sinnlichen Präsenz bis in die letzte Hautpore hinein nachspürt. Der transparente Schleier markiert zur gleichen Zeit eine diskrete Grenze, die sie selber zu ziehen scheint, und die Anmutung einer Art Aura, die mehr enthüllt als verbirgt. 

Heinrich Barth hat wohl Recht mit seiner Beobachtung, dass ein solcher Blick auf einen Menschen selbst ein Kunstwerk darstellt – sei man nun Maler oder nicht. Am Miterleben eines solchen Kunstwerks kann man diesen Blick üben, im Leben wird er sich bewähren müssen. Wir haben in der heutigen Zeit mehr denn je nötig, das wahrhaft Individuelle unserer Mitmenschen sehen zu lernen.

Lydia Fechner

Workshop an der Universität Marburg zur Problemlage der Psychologie

Abbildung: Heinrich Barth, Anna Tumarkin und Karl Joël
Von links nach rechts: Heinrich Barth, Anna Tumarkin und Karl Joël.

„Das ist seit langem eine universitäre Veranstaltung, die ich nicht so schnell wieder vergessen werde”, kommentiert ein Student der Psychologie den Workshop „Metaphysik, Psychologie, Existenz – drei philosophische Perspektiven um 1900” von Dr. Harald Schwaetzer. Am 12. Dezember war das Philosophische Seminar in einem eintägigen Format bei uns am Institut für Philosophie an der Philipps-Universität Marburg zu Gast, eingeladen von Prof. Dr. Alexander Becker. An diesem Workshop fanden Studierende des Bachelors/Masters der Philosophie und der Psychologie Interesse. 

Harald Schwaetzer eröffnete uns am Vormittag den historischen Kontext mit seinen kulturellen und gesellschaftlichen Krisen und insbesondere der Entzweiung von Philosophie und Psychologie: Eine nicht unwesentlich wissenschaftspolitisch motivierte Ausgründung der Psychologie, orientiert an der naturwissenschaftlichen Methode in Abgrenzung zur Philosophie und Theologie. Was ist die Seele, und wie ist sie wissenschaftlich zu untersuchen? Dieser Frage gingen wir am Nachmittag in einer Textarbeit nach, anhand des Baseler Trios aus Karl Joël, Anna Tumarkin – erste Professorin Europas mit vollen Rechten – und Heinrich Barth. Joëls Kapitel „Die Seele als modernes Gespenst” wies auf die Problemlage einer Psychologie, die sich ihres Gegenstandes entfremde und von einer Seele teils gar nichts wissen wolle. Tumarkins Prolegomena analysieren, wie die Seele als Gegenstand der Psychologie adäquat untersucht werden kann: Die naturwissenschaftliche Methode zur Erkenntnis in der Psychologie weist sie entschieden zurück, fragt aber gleichsam nach der Bedingung der Möglichkeit eines objektiven Verständnisses. Dafür entfaltet sie die „Idee einer einheitlichen Persönlichkeit”, die als Prinzip der Erkenntnis seelischer Zusammenhänge (anderer) verwendet werde. Mitsamt dem diffusen Material der Einfühlung formen wir nach Tumarkin ein seelisches Verständnis der anderen Person – stets orientiert daran, dass uns eine Persönlichkeit begegnet, die einen einheitlichen Lebenszusammenhang in sich trägt und sich demgemäß äußert. Leider fehlte uns am Ende die Zeit, um Heinrich Barths „ex-sistere”, „Heraustreten”, des Seelischen in die auch leibliche Erscheinung, anschließend sorgfältig zu betrachten. 
Das Nachforschen des Erkennens der eigenen und anderen Seele fand mit dem konzentrierten und kurzweiligen Workshop hoffentlich kein Ende. Harald Schwaetzer hat uns einen (für die meisten von uns ersten) tieferen Einblick in die historische Dimension der Problemlage der wissenschaftlichen Disziplin der Psychologie – die bis heute kaum ihren Gegenstand zu benennen noch zu bestimmen weiß – an die Lahn gebracht. Und er zeigte uns, was dieser Problemlage bereits vor mehr als hundert Jahren erhellend entgegengestellt wurde. – Eine Wiederholung des Formats würden wir in Marburg sehr begrüßen.

Sara Müller
 

Akademische Freiheit

„Akademische Freiheit, Orte und Regeln des freien Wortes im Wandel geschichtlicher Kontexte“ – unter diesem Titel versammelte im April 2022 Tilman Borsche an der Universität Hildesheim einen internationalen Kreis von Wissenschaftlern, um über die Bedingungen des freien, ungehinderten Entfaltens im Leben und Wirken an den Hochschulen zu diskutieren. Zu den Teilnehmern zählten gleich eine ganze Reihe von Personen, die am Philosophischen Seminar mitwirken oder ihm doch eng verbunden sind. Nun ist der Band, der diese Tagung dokumentiert, im Verlag Karl Alber herausgekommen. Vielfältig und aspektereich ist das in den Gesprächsbeiträgen Vorgestellte, es reicht von Skizzen und kennzeichnenden Momenten der historischen Entwicklung der Lehre und des Lernens an höheren Schulen bis hin zu systematischen Erörterungen zu Möglichkeiten und Bedingungen, Gefährdungen und Chancen – ja auch der darin liegenden Genüsse – der vorurteilsfreien forschenden Erwerbung und der freien, selbstverantworteten Darlegung von Gedankengängen und Ansichten. Deutlich stellen allen Beiträger heraus, dass eine Freiheit im Lehren und – komplementär – eine Freiheit des Hörens und Lernens unabdingbar für die Entwicklung einer Gesellschaft und einer freudevollen Lebenswelt unerlässlich ist.   

Wolfgang Christian Schneider

Akademische Freiheit – Orte und Regeln des freien Wortes im Wandel geschichtlicher Kontexte. Herausgegeben von Tilman Borsche, Verlag Karl Alber, Baden-Baden 2023, 384 Seiten, broschiert, 79 EUR. Der Band kann hier bezogen werden.
Mit Beiträgen von Aleida Assman, Inigo Bocken, Tilman Borsche, Ivo De Gennaro, Rolf Elberfeld, Anke Graness,Werner Greve, Alexander Kartosia, Theo Kobusch, Lars Leeten, Ekaterina Poljakova, Wolfgang Christian Schneider, Harald Schwaetzer, Werner Stegmaier, Christian Strub und Teruaki Takahashi.

 

Weitere Neuerscheinungen

> „Das Böse denken. Hannah Arendt & Heinrich Barth im Gespräch“. Bulletin der Heinrich Barth-Gesellschaft Nr. 22, August 2022 – siehe hier.

> „Blicke ins Kommende“. Coincidentia 13/1, 2022 – siehe hier.

> „Universum infinitum“. Nikolaus Cusanus and the 15th-Century Iberian Explorations of the Ocean World. Texte und Studien zur europäischen Geistesgeschichte Reihe B, Band 25 – siehe hier.