Denkenkönnen scheint uns allen von Natur aus gegeben. Aber wie es mit so vielen im Menschen angelegten Fähigkeiten ist – sie liegen häufig brach und werden wenig angewendet, schon gar nicht bewusst entwickelt. Das Denken ist hier keine Ausnahme.
In dieser Reihe von Denklichtern gehen wir dem Phänomen des Denkens nach, wie es im Bewusstsein auftritt. Jeder Mensch kann es beobachten und wir heben hier nur ausgewählte Aspekte hervor, die zu seinem Wesen gehören.
Was in uns will eigentlich „zur Wahrheit“? – In der Tat, wir machten lange halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehenblieben. Wir fragten nach dem Werte dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse
In einer Welt der Lüge und Fake News, der gezielten Manipulationen und tagtäglichen politischen Verdrehungen scheint Nietzsches Frage nach der Bevorzugung von Unwahrheit vor der Wahrheit kaum mehr provokativ. Eher muss man heute fragen, wie sich der Wille zur Wahrheit eigentlich noch rechtfertigen lasse.
In alten Zeiten, z.B. im antiken Griechenland, zeugen die uns überlieferten Dokumente von einer unmittelbaren Gotteserfahrung als „Begründung“ der Wahrheit: der Gott oder die Göttin erscheinen wie von außen und offenbaren dem Menschen die hier und jetzt auszuführende Wahrheit. Nicht der Mensch arbeitet sich mit seinem persönlichen Willen und Denkvermögen vor zu einer Erfahrung des Entbergens eines den Sinnen Verborgenen hin. Wahrheit und Sinn seines Handelns erscheinen ihm als göttliche Offenbarung, die jenseits eines möglichen Zweifels liegen.
Im Laufe der Geschichte wird die Außenerfahrung dann allmählich zu der moralischen Innenerfahrung, auf die sich Nietzsche bezieht: Der einzelne Mensch wird – nachdem er auch die religiöse Erfahrung göttlicher Gebote in seinem Inneren verliert – zur alleinigen Instanz, zum Akteur der Wahrheitserfahrung und des Urteilens. Seine Anstrengung und Moralität allein führt zur Erfahrung des Wahren und damit zum eigenverantwortlichen, biographischen Handeln. Diese Selbstverständlichkeit der eigenen Aktivität hat heute fatalerweise dazu geführt, dass wir Wahrheit als subjektiv und damit im tieferen Sinne als überflüssig bezeichnen: Kann man eine so nur für das einzelne Individuum zustande kommende Wahrheit als eine allgemeine wirklich noch begründen?
Wahrheit, wie sie im Vollzug des Denkens erscheint, ist eine bestimmte innere Erfahrung, die keines äußeren Beweises bedarf, ja, die gar nicht tangiert werden kann durch äußere Beweise. Selbst bei einem naturwissenschaftlichen Experiment nimmt uns die Natur das Urteil „Das ist wahr“ nicht ab; wir müssen es selbst vollziehen und verantworten und gehen dabei immer das Risiko ein, daneben zu liegen.
Aber dass ich jederzeit irren kann, entpuppt sich, genauer betrachtet, als Möglichkeit einer freien Entwicklung meiner moralischen Kraft: Wahrnehmungen zwingen mich nicht zur Einsicht, sie rufen mich auf, durch mein Urteil stimmige Vorstellungen zu bilden, bei Bedarf aufzulösen und immer neu zu vertiefen.
Wahrheit ist eine prozessuale Erfahrung, die nicht statisch oder absolut, sondern notwendig unabgeschlossen ist. Das Denken zeigt sich dabei mit einer staunenswerten Eigenschaft: Es folgt seinen eigenen Gesetzen, die wir auch Denknotwendigkeiten nennen, aber es verhindert nicht, dass relevante Zusammenhänge oder Wahrnehmungen von mir übersehen, übergangen oder ignoriert werden. Der Wille zur Wahrheit wird damit zur Erfahrung der Freiheit, mich zu bestimmten Notwendigkeiten oder Gegebenheiten in ein Verhältnis zu setzen: die Entscheidung, meine augenblickliche biographische Situation als Frage aufzufassen, deren Antwort nur ich selbst mit meinem Wahrheitsstreben und meinen Fähigkeiten geben kann. Diese Freiheit ist das Gegenteil von Willkür. Insofern ist das Denken, das zur Wahrheit führt, notwendig „allen gemein“, wie bereits Heraklit bemerkt, und somit auch allgemein und gültig. Dies ist nicht mathematisch zu verstehen, sondern als situative Gültigkeit innerhalb eines geistigen Lebensprozesses.
Diese lebendige Wahrheit muss ich wirklich wollen, nur dann kommt sie mir zu. Ich entscheide mich dafür, den Zusammenhang der Welt – Sein und Wege der anderen Menschen oder die Lebensbedingungen der Natur – anzuerkennen und meine Motive in den Dienst von deren Entwicklung zu stellen. Wahre Einsichten führen aus diesem Grund eben auch zu sinnvollen Handlungen.
Auch die Lüge ist eine Entscheidung, nämlich die, das Geschenk des Denkens und Urteilens in den Dienst kleiner oder großer egoistischer Motive zu stellen. Ja, Nietzsche hat Recht, ich kann die Unwahrheit wollen und mit jeder Lüge (nicht Irrtum!) will ich sie auch. Die Frage ist nur, was mir zukommt, wenn ich statt Wahrheit die Lüge will.