Das Denken denken V: Seelenruhe

von | 24. Oktober 2023 | Denklichter

Denkenkönnen scheint uns allen von Natur aus gegeben. Aber wie es mit so vielen im Menschen angelegten Fähigkeiten ist – sie liegen häufig brach und werden wenig angewendet, schon gar nicht bewusst entwickelt. Das Denken ist hier keine Ausnahme.

In dieser Reihe von Denklichtern gehen wir dem Phänomen des Denkens nach, wie es im Bewusstsein auftritt. Jeder Mensch kann es beobachten und wir heben hier nur ausgewählte Aspekte hervor, die zu seinem Wesen gehören.

Johannes Itten, Die Begegnung
Johannes Itten, Die Begegnung, 1916

Der Weg zur Ruhe geht nur durch den Tempel (das Gebiet) der allumfassenden Tätigkeit.

Novalis, Fragmente

Der Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen, wenn wir in innerer oder äußerer Unruhe sind, ist zum Scheitern verurteilt. Denn das Hervorbringen von Ideen, lebendiges Denken, verlangt eine unbedingte Ruhe der Seele.

In unserem ersten Denklicht zum Denken haben wir das Denken als reine Bewegung beschrieben. Eine Bewegung, die abgelegte Vorstellungen auflösen kann und aus eigenem Willen Gedanke mit Gedanke verbindet.

Im Folgenden möchte ich versuchen, die beiden Aspekte des Denkens, die reine Bewegtheit und die Bedingung der Seelenruhe, in ihrem jeweiligen Gebiet des Auftretens aufzusuchen und als sich steigernde Polarität zu denken.

Wenn ich beginne, etwas zu denken, stoße ich innerlich eine Bewegung an. Indem ich nun dieses „etwas“, diesen Inhalt mit meinem Geist ergreife, erlebe ich ihn gleichzeitig als in sich transparente, mit sich selbst identische, auf mich zukommende, harmonische Bewegung, welche sich nach eigenen Gesetzen entfaltet. Diese doppelte Perspektive, die Denktätigkeit und Denkinhalt umklammert, ist eine, die sich wie eine Spirale aus zwei ineinandergreifenden, sich gegenseitig hervorbringenden Kräften – einer subjektgebundenen und einer objektiven – steigert und intensiviert. Ganz im tätig-aufnehmenden Denken sich erschöpfend, sind beide Kräfteströme in gegenseitiger Steigerung aufeinander angewiesen.

Der Denkende erlebt, dass es nichts außerhalb einer Idee gibt, was nicht durch eben genau dieses Denken auch hervorgebracht und durchsichtig, d.h. evident, verstehbar werden könnte; insofern es eben Inhalt der Idee und ihres Potenziales ist. Eine Vertiefung dieser Idee ins Unendliche ist möglich. Das bedeutet aber auch, dass die Spirale zwar einen Anfang in mir hat, sich in ihr aber potenziell eine unendliche Entfaltung und Variation der Idee andeutet.

Erstaunlicherweise erlebt sich das Ich in der Seele während dieser geistigen Tätigkeit wie im Auge eines Sturms: natürlich nur, wenn man den Sturm nicht nur chaotisch vorstellt, sondern wie die spiralige, sich steigernde rein geistige, letztlich wesenhafte Konkretisierung, die wir Idee nennen: hervorgebracht-hervorbringend, in sich selbst durchsichtig und evident.

In vollkommener Seelenruhe sind wir als waches Ich in der Lage, diesen Vorgang – der selbst nicht Seele ist – zu ermöglichen, damit ein Geistiges erscheinen kann.

Es bietet sich der Vergleich eines Musikers an, der durch das Spiel seines Instrumentes den Klang hervorbringt: konzentriert und selbstvergessen nur kann er Organ für den Klang werden, indem er selbst die Bewegungen hervorbringt, die den Klang erzeugen.

In diesem Aufeinanderzubewegen der beiden Aspekte Bewegung und Ruhe erscheinen nun vor unserem geistigen Auge wie von selbst die beiden Begriffe Seele und Geist. Wir haben als Ich denkend die Ideen hervorgebracht in steter Bewegung und Tätigkeit. Zugleich finden wir auf dem Untergrund einer in sich ruhenden, konzentrierten Seele erst den Boden, diese Tätigkeit in ein individuelles, irdisches Bewusstsein zu gießen. Die reine Geistigkeit des denkenden Ich wird hier in einer individuellen Seelenbewegung offenbar. Sie fungiert als Drehpunkt der Waage von Bewegung und Ruhe.

So wird die Seele getragen von einem nicht nur subjektiv Geistigen, das die Begegnung und Steigerung von Gedachtem und Denkendem erst ermöglicht.

Wenn Novalis vorschlägt, der Weg zur Ruhe gehe nur durch die allumfassende Tätigkeit, so meint er meinem Verständnis nach genau dieses Über-sich-Hinauswachsen des Ich in der Seele in die Tätigkeit des Denkens hinein, in die allumfassende, wesensgetragene Welt des Geistes, die alles wahrhaft Individuelle hervorbringt und umfasst.