Angesichts aktueller Problemfelder, insbesondere im Hinblick auf die Zerstörung der Natur, entsteht die Frage nach einem produktiven Umgang mit der abgründigen Kehrseite der Emanzipationsgeschichte mitteleuropäischen Denkens. Es entsteht die Frage, wie ein Subjektivitätsbegriff zu denken ist, bei dem das Subjekt die verantwortete Souveränität aufrecht erhält, ohne sich dabei für sein Gegenüber zu verschließen oder es durch seinen verobjektivierenden Zugriff zu negieren oder gar zu zerstören. Dass bereits bei F.W.J. Schelling ein Ansatz vorhanden ist, der diesem Problem Rechnung trägt, zeigt die Autorin in dieser Schrift.
Johanna Hueck: Aktive Passivität. Krisis und Selbsttransformation der Subjektivität im Denken F.W.J. Schellings, Verlag Karl Alber, 2023, 330 Seiten, 74 €. Bezug hier.
Eine erste Rezension von Nadja Görz ist im Newsletter Oktober 2022 des Philosophischen Seminars erschienen; sie ist im Folgenden wiedergegeben:
Die Schelling-Forschung erlebt derzeit insgesamt eine Blüte. Die Forschung zur mittleren Philosophie dagegen ist nicht sehr breit. Dass Schelling 1821 in den Erlanger Vorlesungen systematisch ein neues Subjektkonzept erarbeitet, wurde zwar bereits seit den 1990er Jahren bemerkt, aber Johanna Hueck gebührt der Verdienst, erstmals die systemtheoretischen und methodologischen Zusammenhänge dieser neuen Konzeption grundlegend zu untersuchen und damit eine wesentliche Forschungslücke zu schließen. Mittels der Figur der „aktiven Passivität“ fasst sie das mediale Erkenntnisprozessgeschehen zwischen dem menschlichen und absoluten Subjekt und beschreibt, wie Schelling damit einen Ausweg aus der Problematik der dualistischen Subjektivität formuliert.
In Schellings Erlanger Erkenntnismethode erfährt der dualistische Bewusstseinsmodus dadurch eine Transformation, dass das Bewusstsein sich in einer gleichberechtigten dynamischen Bezüglichkeitsstruktur zum Absoluten erfährt. Beide Pole, das erkennende Subjekt und das absolute Subjekt, werden dabei als eigenständige Wesenheiten in wechselseitiger Entwicklung begriffen. Sie stehen einander nicht in einem voneinander abgetrennten Subjekt-Objekt-Verhältnis gegenüber, sondern vollziehen miteinander eine innere Tätigkeit, bei der sich die ewige Freiheit des Absoluten im menschlichen Subjekt ausspricht. Die verobjektivierende Funktionsweise des Subjektbewusstseins wird durch diese Erfahrung fundamental gewandelt. Es liegt allerdings im menschlichen Subjekt selbst, in diesen prozessualen Bewusstseinswandel einzutreten. Er ist nur durch die grundlegende Entscheidung (Krisis) möglich, sich selbst, seinen Eigenwillen zurückzunehmen und eine Haltung „aktiver Passivität“ anzunehmen. Erst hier beginnt für Schelling überhaupt Philosophie.
Es ist selbstredend, dass Schelling in der Frage nach Krise und Selbsttransformation und mit ihm die Promotionsschrift von Johanna Hueck an Aktualität nicht brennender sein könnte. Anhaltende Krisen und sich zuspitzende Konflikte bestimmen bis und gerade heute die Welterfahrung des Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts. 1821 gibt Schelling in seiner Neukonzeption der Subjektivität Antwort auf die immer drängenderen Fragen einer echten Bewusstseinswandlung, ohne die eine Veränderung des Menschen und seiner innerweltlichen Verhältnisse nicht zu denken ist. Philosophie wird hier als existentielles und transformatives Bildungsgeschehen verstanden. Diese ethische Aufforderung nach Selbstwandlung, nach einer aktivisch-passivischen Dialogik von Subjekten jenseits von Machtstrukturen hat Schelling zum Vorläufer der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts werden lassen. Die herausragende Dissertationsschrift von Johanna Hueck betritt Neuland in der Schellingforschung und stellt die Bedeutsamkeit des Denkers für unsere Gegenwart eindrucksvoll unter Beweis.