Ich: integer, ganz und vollkommen

von | 13. Januar 2024 | Denklichter

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Hildegard von Bingen: „Kosmos, Leib und Seele“ aus dem Liber divinorum operum I.4 (Detail)

Individuum bedeutet „Unteilbares“. Ohne auf die (Philosophie-)Geschichte des Begriffs eingehen zu wollen, sollen hier einige Gedanken zu der Tatsache entfaltet werden, dass wir uns alle als Individuen bezeichnen und verstehen – und fast nie danach verhalten.

Wenn jeder Mensch ein Unteilbares ist, ist er immer auch ein Ganzes. Etwas, was ganz ist, das scheint uns als „heil“, „gesund“ und „vollkommen“, weil das Gegenteil uns nicht nur an „Teil“, sondern auch umgangssprachlich an „defekt“, in jedem Falle also an „unvollkommen“ erinnert. Demgegenüber denken wir den Menschen – bewusst oder unbewusst – und durchaus mit Recht als ein Mängelwesen, also als ein Wesen, das nicht „ganz“ oder „fertig“ zu sein scheint. Das noch nicht „so weit“ ist oder noch auf dem Weg… Wir haben Fehler, Unfähigkeiten, Einseitigkeiten, Schatten, die wir, zusammen mit unseren positiven Eigenschaften, als unsere Persönlichkeit zusammenfassen. Jeder von uns hat in sich auch ungehobene Schätze, Potenziale, die noch unverwirklicht in uns schlummern. Die entsprechenden Haltungen dazu sind Kritik oder Lob. Ob auf uns selbst oder andere angewandt, sind jede Kritik, jedes Lob ganz grundsätzlich auf das (oft moralische) Urteil ausgerichtet: Du bist gut oder schlecht, begabt oder unbegabt, genial oder durchschnittlich.

Wenn ich nun aber ernst nehme, dass ich immer schon ein Ganzes, Unteilbares bin: Wie lassen sich diese beiden so gegensätzlich scheinenden Perspektiven vereinbaren?

Eine Hilfe, um diese Frage zu beantworten, kann der Gedanke der Entwicklung sein. Auf den Menschen angewandt, gilt durchaus, dass wir uns erst in einer zeitlichen Entwicklung auf uns selbst hin entfalten. Da der Mensch ein Individuum und darüber hinaus ein Ich-Wesen und kein Gattungswesen ist, gibt er sich selbst Ziel und Gesetz dieser Entwicklung; ganz anders als z.B. bei der Pflanze, welche sich ganz nach dem Gesetz ihrer Gattung als Einzelexemplar darstellt.

Ist das Individuum jedoch erst ganz, wenn das „Ziel“ der Entwicklung erreicht ist? Ich denke, jeder würde zustimmen, wenn wir dies verneinen. Was aber stimmt vor dem Hintergrund dieses Urteils für uns an dem Satz nicht: „Ich bin ein vollständiges, ganzes Wesen?“ Ich glaube, der Widerspruch entsteht dadurch, dass wir diesen unbewusst auf die Ebene der (veränderlichen) Eigenschaften beziehen, statt auf die Ebene des eigentlichen Individuums, der Ganzheit, die unser Wesen eben auch ist. Die Aussage: „Ich bin ein ganzes, unteilbares Wesen“ schließt aber ein, dass es eine Seinsweise gibt, die schon immer absolut gut und wahr ist, ganz unabhängig von unseren momentan sich zeigenden oder noch schlummernden Eigenschaften oder Mängeln.

Die Frage ist nur, ob wir einen Blick, eine deutliche Wahrnehmung dafür haben, dass es dieses Wesen überhaupt gibt. Kann ich überhaupt selbst zu der Erkenntnis gelangen, dass ich in mir selbst dieses integre, gute und – auf dieser Ebene gedacht – auch vollkommene Wesen bin, das uneingeschränkte, bedingungslose Annahme und Liebe verdient? Und welches der Gestalter der Eigenschaften ist, die ich zur Geltung bringen kann? Kann ich dieses auch im Anderen erblicken? Diese Wahrnehmung geht nun zunächst mit einem gedankendurchzogenen, begrifflich klaren Gefühl einher, das „weiß“ und das gleichzeitig einen liebevollen (Selbst)Bezug herstellen kann.

Die Ganzheit, die ich bin, erlebt sich in dieser Perspektive nicht als isolierte Entität, sondern ist als Ganzheit, ohne ihre Autonomie aufzugeben, Spiegel und Geschöpf einer viel größeren, wesenhaften Einheit, die alte Philosophen auch das „Eine“ oder die Religionen „Gott“ genannt haben. Das Individuum ist somit keine ungeteilte, ganze „fensterlose Monade“ (Leibniz), ein abgeschlossenes, isoliertes Wesen, sondern es erkennt und versteht sich und alle Menschen als zusammenhängend mit allem Lebendigen.

Ein solchermaßen gewandelter Blick auf uns selbst und alle Menschen wäre ein erster, entscheidender Schritt zu einer Ökologie, die Mensch und Natur nicht getrennt betrachtet, sondern als zusammengehörig und in sich durchdringender Wirksamkeit erlebt. Aber auch die Erziehungs- und Begegnungskultur würde sich radikal ändern, wenn wir beide Ebenen – wandelbare Fähigkeiten und bereits in sich vollkommenes Wesen – miteinander in ein fruchtbares Gespräch bringen könnten.