Nährenden Weidegrund finden

von | 06. August 2024 | Denklichter

1. Wer nicht hineingehend durch das Tor in die Umfriedung der Schafe hinein,
sondern hinaufsteigend von anderswo her:
jener ist heimlicher Entwender und Beutemacher;
2. wer aber hineingehend durch das Tor, ist Hirte der Schafe.
3. Diesem öffnet der Hüter der Torschwelle,
und die Schafe hören auf seinen Stimmenklang,
und die ihm eigenen Schafe ruft er jedes gemäß dem Namen,
und er führt sie hinaus.

Joh 10, Übersetzung von Harald Schwaetzer

Wenn wir an die bildlichen Darstellungen Jesu Christi denken, ist uns Heutigen das Kruzifix die geläufigste und verbreitetste Form, die uns den inkarnierten Logos vor Augen stellt. Ungefähr seit dem 6. Jh. n. Chr. hat die Kreuzigung als christliches Symbol sich nachweislich durchgesetzt, vorher war sie in dem engeren Sinne nicht gebräuchlich. Die Menschheit hat also seit 1400 Jahren täglich ein Bild vor Augen, das einen Sterbenden oder bereits toten Christus zeigt. Im Mittelpunkt steht dabei der physische Aspekt des Mensch gewordenen Gottes im Moment seines größten Leidens. Abstraktere Formen beschränken sich auf das Zeichen des Kreuzes ohne den sterbenden Leib. Das Kreuz ist zum Zeichen des Christentums überhaupt geworden.

Welche Form der erinnernden Verbildlichung haben aber die Menschen bis zum 6. Jh. gewählt? Es war das Bild des Hirten, der entweder ein Schaf auf den Schultern trägt und, etwas später und weniger häufig, das Bild des seine Schafe weidenden Hirten. Größer könnte man den Kontrast kaum denken. Hier das Bild des gefolterten, beinahe nur noch auf das Physische reduzierten Leidens, dort ein Bild des Lebens, der umhegenden Liebe und Sorge.

Im Johannesevangelium stellt das 10. Kapitel die zentrale Quelle für diese Darstellungen dar. Oben habe ich die ersten Verse zitiert. Erst ein wenig später im Text stellt sich heraus, dass der Hirte der Christus selbst ist. Das Bild ist komplex und wandelt sich mehrfach. Ich möchte an dieser Stelle nur den zentralen Satz unseres Zitats an den Anfang des Gedankens stellen: „wer aber hineingehend durch das Tor, ist Hirte der Schafe“.

Der rechtmäßige Hirte geht durch das Tor, es gibt aber andere, den Schafen weniger Wohlgesonnene, die wählen andere Wege. Nur ER kann die Torschwelle zu den Schafen an dem Torhüter vorbei auf solche Weise überschreiten, dass sie seinen Stimmenklang vernehmen als ihnen vertraut. Die überschrittene Schwelle wird hier zum Zeichen für die bewusste Wesensbegegnung. Wenn wir nun in diesem Sinne, wie es naheliegt, die Schafe als die einzelnen (nicht ver-einzelten) Menschen verstehen, so wird verschiedenes deutlich. Zunächst und später im Text noch mehr, wird klar, dass es um ein gegenseitiges Erkenntnisverhältnis geht. Die Schafe erkennen IHN, und ER erkennt die Schafe. Als Kontrast dazu werden diejenigen genannt, die auf manipulative, nicht mit wacher Erkenntnis begleitende Weise zu den Schafen vordringen wollen und ihre Eigeninteressen als „Entwender und Beutemacher“ in den Mittelpunkt ihrer Interessen stellen.

Ein weiterer Aspekt ist, dass ER sie hinausführt aus der Umfriedung auf die nährende Weide. IHM geht es also darum, ganz uneigennützig für das Gedeihen seiner Herde zu sorgen, und so heißt es in Vers 9: „und er [der Mensch] wird nährenden Weidegrund erkennend finden“.

Es besteht zwischen Gott und Mensch ein umsorgendes Erkenntnisverhältnis, ein Interesse, das auf einem klaren, wachen, vertrauensvollen Seelenleben beruht. Hier muss niemand blind und dumm eine Nachfolge antreten, sondern jeder ist aufgefordert, sich mit seinem Wesen ganz bei „seinem Namen“, also im Innersten angesprochen zu fühlen. Eigen- oder Gruppeninteressen, seien sie materieller oder ideeller Natur, sind in diesem Verhältnis ausgeschlossen, da es um ein reines Ich-Verhältnis geht. Es handelt sich hier um das Gegenteil eines Weges, der auf äußerer Autorität oder Beeinflussung beruht. Das Leben der Schafe und deren Gedeihen beruht im wesentlichen Kern auf dem lebensfördernden Respekt vor der Eigenständigkeit und der absoluten Unantastbarkeit des Individuums. In diesem Zusammenfallen von Bewusstsein und Leben zeigen sich bereits wesentliche Aspekte der Auferstehungsthematik, die im weiteren Verlauf des Evangeliums weiter entfaltet wird.

Als letztes kann man sich fragen, wo wir um uns herum eine solche, zutiefst christliche Haltung heute realisiert finden. In weiten Teilen von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und den etablierten religiösen Institutionen wohl nicht. Aber dieses besondere, alle Menschen ohne Ansehen der Religion gegebene Gott-Mensch-Verhältnis, einmal eingesehen und vielleicht erlebt, geht nicht von einer Erwartungshaltung aus – es lebt aus der Ermöglichung, die ich (aus dieses Wirksamkeit heraus) für andere sein kann, damit Räume entstehen können, wo wir uns auf Hirtenart als Menschen begegnen können. Mögen es auch nur bescheidene Anfänge sein, so werden sie doch mit Sicherheit mehr Kraft besitzen als das, was uns heute als Erfolgsgeheimnisse im Sinne der „Beutemacher“ vorgegaukelt wird.

Das Bild des Hirten könnte in ein paar hundert Jahren vielleicht erneut zu einem verbreiteten Symbol des Christentums werden.

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