Liebe Leserin, lieber Leser,
als Zeitenwende gilt das Jahr der Geburt Jesu. Seit über 1000 Jahren ist dieses Ereignis der Bezugspunkt unserer Zeitrechnung. Doch auch im Jahr 33 nach dieser Rechnung hat sich eine Zeitenwende vollzogen – mit Christi Tod und Auferstehung. Gerade haben wir sie wieder im Osterfest gefeiert. Dem Auferstandenen ist als erster Mensch Maria Magdalena begegnet, die ihn aus ihren Herzenskräften heraus nach einer doppelten inneren Wendung auf ihn zu als solchen erkannte.
Neuerdings ist noch von einer ganz anderen Zeitenwende die Rede, die 2022 begonnen habe – militärisch gesehen. Wolfgang Gutberlet, Freund und Förderer des PHILOSOPHISCHEN SEMINARS und Mitautor der Werdebücher, gibt im unten stehenden Denklicht diesem Begriff wieder eine Wende ins Menschliche – als Frage: Wohin soll ich mich, mein Leben wenden? Wie behalte ich, im Zusammenklang mit anderen, die Gestaltungshoheit für (m)eine Zeitenwende? Damit trifft er ein Kernanliegen unserer Arbeit!
Der neue Newsletter enthält darüber hinaus wichtige Ankündigungen und interessante Berichte. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!
Es grüßt Sie herzlich
Stephan Stockmar
im Namen der Mitarbeitenden des Philosophischen Seminars
Inhalt des Newsletters
Veranstaltungen
- Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE: Schnupperabend am 12. Mai 2023, 17–20 Uhr, in Freiberg am Neckar
- Summer School für Studierende und Auszubildende: Kreativität und Politik: Zukunft zwischen Utopie und Dystopie, vom 18. bis 24. September 2023 in Freiberg am Neckar (siehe unten)
Denklicht: Zeitenwende – Morgengedanken von Wolfgang Gutberlet
Es wird fast bedrohlich ausgesprochen: Wir stehen an einer Zeitenwende! Wendet sich die Zeit? Sind es nicht wir, die uns in der Zeit wenden? Das erinnert mich an einen Brief von Schiller an Wilhelm von Humboldt, kurz vor seinem Tod, in dem er feststellt: „Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu laßen, daß die Dinge uns formten, und nicht wir die Dinge“ (2.4.1805).
Ist dies nicht die Aufforderung, dass wir uns zu wenden haben? Doch wohin sollen wir uns wenden? Die Gedanken, die sich manche Menschen dazu machen, werden von anderen als esoterisch bezeichnet. Das heißt doch aber, wenn wir nicht esoterisch denken, lassen wir uns exoterisch gestalten, nämlich von den Dingen …
Wenn wir schon von Zeitenwende reden, dann müssen wir darüber reden, wohin wir uns wenden wollen. Oder sollen? Wer aber bestimmt dann, in welche Richtung wir uns zu wenden haben? Es geht ja nicht um das Wenden an sich, denn wenn wir werdende Menschen sind, dann wenden wir uns täglich. Die Frage ist, ob wir uns jetzt gemeinsam in eine Richtung wenden und wem wir dabei folgen sollen. Rennen ohne Ziel ergibt noch keine Transformation. Wir müssten erst ein Ziel für uns erkennen und uns dann die Informationen über den Weg dahin suchen.
Die moderne Philosophie und die Naturwissenschaft – beide verbinden sich im Augenblick sehr stark – kommen überwiegend zur Überzeugung, dass es kein Wesen über dem Menschen gibt. Dafür suchen sie umso intensiver, ob es ein Wesen ähnlich dem Menschen gibt – irgendwo anders im Kosmos.
Doch was bedeutet es für uns, wenn wir denken, dass es kein Wesen über uns gibt? Was bedeutet es für die Frage nach der Gestaltungshoheit für eine Zeitenwende? Da gibt es bereits Menschen und Menschengruppen mit diesbezüglichen Gedanken oder Ideologien. Wer darf herrschen und wer muss beherrscht werden, damit die Herrschaft nicht gefährdet ist? Und wie sicher müssen diese Beherrschungsverhältnisse sein, damit sie für den Herrschenden nicht gefährlich werden?
Die Welt hat sich von Revolution zu Revolution fortentwickelt. Man kann kaum glauben, dass diese Reihe zu Ende ist. Selbst Mephisto sagt im Faust von Goethe: „Wo so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, / stellt er sich gleich das Ende vor.“ – Die Entwicklung muss sich zum Guten wenden, und wenn es noch nicht gut ist, dann war es noch nicht das Ende: Das wäre eine hilfreiche Haltung.
Eigentlich müssten wir jeden Tag mit der Frage aufwachen: Wohin soll ich mich wenden? Das ist nicht nur eine Frage nach der Macht über mich, sondern vor allen Dingen eine Frage nach der Macht in mir. Es ist die Frage nach der Esoterik. Will ich leugnen, dass es ein höheres Wesen über mir gibt, das mir eine Entwicklungsmöglichkeit auch zum Höheren zeigt und mich zu innerem Wachstum erzieht? Will ich mich diesbezüglich aufgeben und mich der Philosophie eines Yuval Noah Harari anschließen, wie er sie z.B. in „Homo Deus“ entwickelt? Will ich warten, bis die Mächtigen den Kampf um die Alleinherrschaft ausgetragen und eine herrschende Klasse gebildet haben, die Ungehorsam in ihrem Sinne sofort bestraft?
Goethe weist darauf hin, dass der Gedanke an ein Wesen über den Menschen uns eine Steigerungsmöglichkeit und einen höheren Wert gibt. Wenn dieser Gedanke fehlt und wir uns Menschen selbst als das höchste Wesen sehen, dann stellt sich die Frage, wer der Herrscher unter den „Gleichen“ sein kann und darf. Das führt aber zu einer Erniedrigung des größten Teils der Menschen.
Mein Vater hat immer gerne das Lied gesungen: „Alle Tage ist kein Sonntag / Alle Tag gibts keinen Wein / Aber du sollst alle Tage / Recht lieb zu mir sein / Und wenn ich einst tot bin / sollst du denken an mich / Auch am Abend eh du einschläfst / Aber weinen darfst du nicht.“ Er bezog dieses Volkslied auf seine Partnerin.
Ich habe in meinen Morgengedanken dieses Lied einmal in Bezug auf die göttliche Partnerschaft umgetextet: „Alle Tage ist kein Sonntag / alle Tage gibts kein Wein / Aber du sollst alle Tage bewusst von mir sein / Und wenn du bist weltvergessen / Sollst du denken an mich / Bei jeder Weltgestaltung / Aber jammern sollst du nicht.“
(Weitere Denklichter können Sie auf unserem Blog lesen.)
Sommerwoche für Studierende und Auszubildende:
Kreativität und Politik: Zukunft zwischen Utopie und Dystopie
18.–24. September 2023 in Freiberg am Neckar
Die Sommerwoche des Begleitstudiums DENKWÜRDIG! rundet das Curriculum der vorhergegangenen fünf Wochenenden ab und ist zugleich geöffnet für alle jungen Menschen, die das PHILOSOPHISCHE SEMINAR kennenlernen wollen und sich für das Thema interessieren. Inhaltliche Arbeit von philosophischen Primärtexten zum Thema „Kreativität und Politik“ und praktische künstlerische Arbeit stehen im Mittelpunkt. Gemeinsam entwickeln wir künstlerische Projekte bis zur Umsetzung, die philosophische Gedanken aufgreifen, eigene Fragen vertiefen, Stellung nehmen zu gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit und die politische Verantwortung der Philosophie kreativ ins Werk setzen. Zusammen mit Künstlerinnen und Künstlern entstehen in dieser Woche je nach den Interessen in der Gruppe ein Theaterstück, eine Ausstellung, eine Performance, eine Publikation o.Ä., die zum Abschluss öffentlich präsentiert werden.
Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE – Wahrnehmen, Orientieren, Entscheiden:
Interview mit einer Teilnehmerin
2019 startete Birgit Ertl als Teilnehmerin in einer Gruppe von 15 Personen in den Pionierjahrgang der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE und ist jetzt im dritten Jahr (Vertiefungsjahr) unseres Programms. Sie ist Diplom-Pädagogin und arbeitet seit vielen Jahren mit Eltern und Mitarbeitenden in pädagogischen Einrichtungen. Sie hat eine eigene Praxis „Beziehungs-Garten“ und berät und begleitet Erwachsene im Zusammenleben mit Kindern. Außerdem bietet sie Fortbildungen, Vorträge, Coachings und Kurse an. In diesem Kurzinterview erzählt sie von ihren Erfahrungen in der Weiterbildung LEBENDIGE PHILOSOPHIE. Die Fragen stellt Paula Kühne Rendtorff, Dozentin der Weiterbildung.
Paula Kühne Rendtorff: Liebe Birgit, was war deine persönliche Motivation, an der Weiterbildung teilzunehmen? Was hast du damals erwartet?
Birgit Ertl: Anfangs war meine Motivation dadurch geprägt, dass ich mit meinem Mann eine gemeinsame Weiterbildung machen wollte. Ich dachte, dass es ganz interessant sein könnte, mehr über einzelne Philosophen zu erfahren und hatte eigentlich wenig Erwartungen, sondern eher die Sorge, dass es womöglich sehr theoretisch und kopflastig, allein an komplizierten Texten orientiert sein könnte.
PKR: Und wie würdest du jetzt den Weg beschreiben, den du mit den anderen Teilnehmenden gegangen bist?
BE: Schon am ersten Wochenende ging mir „ein Licht“ auf und mir wurde klar, dass genau dort meine Themen sehr praktisch bearbeitet wurden. Wir alle haben von Anfang an Feuer gefangen und uns in auf die Bereiche „Textarbeit“, „Wahrnehmungs- und Hörübungen“ und „Umsetzung in den Alltag“ eingelassen und eingearbeitet. Spannend war und ist unser gemeinsamer Prozess, wir sind mit-, aneinander und mit den Philosophen (den historischen wie aktuellen) gewachsen und haben uns an die großen Themen der Welt und des Menschseins gemacht. Wir können uns heute anders in „das große Ganze“ einordnen und habe eine Orientierungshilfe und Verständnis dafür, wie wir heute denken, fühlen und handeln.
PKR: Was ist für dich persönlich der wichtigste Aspekt der Weiterbildung? Was bedeutet diese für deinen beruflichen Alltag als Pädagogin und Beraterin?
BE: Für mich war und ist besonders wichtig, dass ich gelernt habe, „klarer“ zu denken; ich meine Wahrnehmungsfähigkeiten weiterentwickelt habe und somit mein Handeln auf einer bewussteren Basis steht. Ich habe Worte und Begriffe gefunden für das, was mir schon immer wichtig war und kann das auch leichter sprachlich verdeutlichen. Es ist wie ein tieferes und bewussteres Eintauchen in mich selbst und die Themen der Menschheit, was mir auch in meinem beruflichen Alltag hilft, um wichtige Aspekte zu verdeutlichen. Ich kann bewusst wechseln und unterscheiden zwischen dem Denken und Wahrnehmen und für beide Bereiche passende Impulse in der praktischen Umsetzung bei Problemlösungen geben.
Ich kann diese Weiterbildung wirklich für allen empfehlen, denen die Welt am Herzen liegt!
PKR: Vielen Dank für dieses Interview!
Bericht vom Workshop „Aktualität des Johannes-Evangeliums“
„Werde wach, emporhebend trage Dein Gestell und wandle schicksalsgemäß!” sind die initiierenden, an den Kranken gerichteten Worte Jesu, die im Mittelpunkt des eineinhalbtägigen Weiterbildungs-Workshops zur „Aktualität des Johannes-Evangelium” standen. Zu Beginn verglichen wir drei verschiedene Übersetzungen von Kapitel 5 des Johannes-Evangeliums: Die der Luther-Bibel und der Einheitsübersetzung sind sich ziemlich ähnlich, klingen relativ schlicht. Harald Schwaetzer übersetzt sperriger, aber auch lebendiger, sich nahe an den altgriechischen Wortlaut und den Geist der Spätantike haltend.
Kranke, beschrieben durch die vier Ungleichgewichte gemäß der Säftelehre, liegen am künstlichen Teich Bethesda in der Erwartung auf Heilung durch das von einem Engel (geistig-seelisch) bewegte Wasser (lebendig), in dem – nach der Legenda aurea – ein Zedernstamm (leiblich) versenkt ist.
Dieser entstammt der Legende nach dem Baum, der aus dem Zweig gewachsen ist, den Seth durch den Erzengel Michael vom Baum des Lebens für Adams Grab erhalten hat. Sein Holz war für die Errichtung des Salomonischen Tempels nicht passend, wurde als Brücke über den Teich von der Königin von Saba verweigert und sodann versenkt. Schließlich diente es als Hauptstamm für das Kreuz Jesu. So führte uns Harald Schwaetzer in den größeren Kontext des kleinen Textauszugs ein.
„Und sogleich ward lebenskräftig-gesund der Mensch”, nachdem Jesus den Kranken in seinem Willen angesprochen hatte. An einem Sabbat richtete er sich auf und „wandelte schicksalsgemäß”, sein Kreuz eigenständig tragend. Die dargestellte Heilung vollzieht sich ganz von innen her, und der Kranke bedarf keiner äußeren Einwirkung des vom Engel bewegten Wassers und der Hilfestellung eines anderen Menschen, um zur rechten Zeit in den Teich steigen zu können. Diese Selbstermächtigung am Sabbat missfällt den Gesetzestreuen, die anders als der geheilte Mensch in Jesus nicht den Messias erkennen und Jesus letztlich für seine Tätigkeit am Sabbat hinrichten werden.
Dieser Umwendung folgend näherten wir uns, angeregt durch Fragen von Lydia Fechner, der eigenen wirkenden Ich-Kraft an: Kenne ich die Erfahrung, dass sich etwas Anderes oder jemand an die Stelle des eigenen Ich setzt? Welche Möglichkeiten von Ich-Erfahrungen bietet mir die Bibelstelle an? Wir spürten im Gespräch der Ansprache „Hast du den Willen, gesund-lebenskräftig zu werden?” nach, entdeckten aber auch den nicht-erkennenden, sich auf Gesetze und Traditionen berufenden Judäer in uns. In einer abschließenden Runde versuchten wir uns die eigene Ich-Begegnung in einem Bild zu vergegenwärtigen. So wurde dieses Seminar zu einem „Fest“, wie ein Teilnehmer bemerkte.
Sara Müller, Marburg
Bericht Master-Seminare: „Wir haben fünf Tage lang nur geredet, gedacht, gelesen“
Mit diesen Worten hat ein Mitglied unserer kleinen Gruppe aus Marburger Kommilitonen und Freunden die gemeinsame Erfahrung beschrieben, für die wir unsere Reise in den Süden angetreten haben, zum PHILOSOPHISCHEN SEMINAR in Freiberg. Neugierig gemacht hatten uns die Schilderungen einer Gefährtin unserer Gruppe, die das Seminar bereits einige andere Male besucht hatte, sowie die eindrückliche Erfahrung mit Harald Schwaetzer bei einem Arbeitskreis in Marburg (siehe Newsletter 1/2023). Wir versprachen uns von dieser Woche also einiges und waren voller Optimismus – nicht zuletzt auch aus der z.T. erheblichen Frustration und Desillusionierung von konventioneller zeitgenössischer Hochschullehre, wie wir sie bisher erfahren hatten.
Wir haben in unserer Woche zwei Master-Seminare besucht. Die ersten zwei Tage versuchten wir uns mit Salvatore Lavecchia, Philosophieprofessor an der Universität in Udine/Italien, Rudolf Steiners „Anthroposophie. Ein Fragment“ unter dem Aspekt „Ich und die Sinne“ zumindest der groben Grundidee nach zu erschließen. Die folgenden drei Tage erarbeiteten wir uns mit Johanna Hueck Schellings Einleitung in die „Philosophie der Offenbarung“.
Zu versuchen, die Erfahrung, die wir beim Arbeiten am Philosophischen Seminar gemacht haben, kurz zu erfassen, erscheint relativ aussichtslos – man sollte es selbst erfahren. Unsere Erwartungen wurden jedenfalls noch übertroffen! Was bleibt, ist der Eindruck, sich gemeinschaftlich fünf Tage lang in größter Ernsthaftigkeit und Konzentration mit existenziellsten Fragen beschäftigt zu haben. Für mich war es das intensivste intellektuelle Arbeiten, das ich in meinen acht Semestern akademischen Studiums bisher erlebt habe. Daher empfehlen wir das Philosophische Seminar wärmstens weiter und wollen selbst auch wiederkommen!
Gabriel Schnizler, Marburg
Bericht vom Vortrag „Perspektiven für die Gegenwart – Bildung und Menschsein in der frühen Neuzeit“
Auf Einladung der Freien Hochschule Stuttgart hielt Harald Schwaetzer einen Vortrag mit dem Titel: „Perspektiven für die Gegenwart: Bildung und Menschsein in der frühen Neuzeit“. Anhand des „Buches über den Weisen“ von Carolus Bovillus (1479-1567) stellte er das Bildungsideal der Renaissance vor. Bovillus, französischer Humanist, guter Kenner von Cusanus und der italienischen Renaissance, beschreibt, wie der Mensch „von Natur“, „dem Alter nach“ und „dem Streben nach“ Mensch werden kann. Ein Mensch werden „dem Streben nach“ setzt voraus, dass der Einzelne als Einzelner sein Denken ergreift und diese Entscheidung für das Denken als Entwicklung seiner selbst versteht. Denkende Selbsterkenntnis wird damit eine Frage individualer Ethik. Es wurde deutlich, dass die Anthropologie der Reformpädagogik und der Waldorfpädagogik diesem frühneuzeitlichem Konzept ausgesprochen nahe steht.